Vinyl

USA , 1965

Min. 66
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Vinyl ist die erste Filmversion von Anthony Burgess berühmten Roman «A Clockwork Orange». März 1965 gab Warhol Tavel ein Exemplar des Romans mit der Bemerkung, dass es vielleicht leichter sei, ein Szenario basierend auf einer Fiktion zu schreiben als eines aus reiner Fantasie auszuspinnen. Er hatte die Rechte an Burgess Buch, wie er sagte, für 3.000 Dollar erworben; daraus könne ein guter Film werden. Und so geschah es. Es ist nicht schwer zu erraten, was Warhol an «A Clockwork Orange» beeindruckte. (Nebenbei sollte ich erwähnen, dass Warhol, entgegen dem Mythos, den er selbst verbreitet, sehr belesen ist.) Das Buch ist voll mit Sex und Gewalt; es schildert einen bösartigen, jugendlich-erotischen Delinquenten, der lustvoll über eine Bande von Freaks herrscht; es konfrontiert mit einer Psychologie, die angetrieben wird von der Idee des seelenlosen, terroristischen Geistes als Mechanismus, als Maschine; sein Thema ist die Entmenschlichung innerhalb einer gleichzeitig heruntergekommenen und unwirklichen Gegend. Und schließlich gibt es darin die Klassenfrage. Über sein ganzes spätes Werk hinweg ist Warhol fasziniert von ungebildeten, harten Jungs: Man spürt, wie er auf den Anblick roher Virilität reagiert mit dem Drang, diese Virilität zu umfassen zu umfassen und in die Schranken zu weisen innerhalb der übersinnlichen Feinheiten seiner eigenen ästhetisierenden Geisteshaltung. Wahrhol ist, denke ich, tief verstrickt in das bestgehütete Geheimnis Amerikas die schmerzhafte, tief verdrängte Heftigkeit, mit der wir die Erfahrung unserer Klassenverhältnisse machen. Wir sollten nicht vergessen, dass wir von einem Sohn wenig gebildeter Immigranten sprechen, dessen Vater Stahlarbeiter in Pittsburgh war. Warhol hat die amerikanische Klassen-Demütigung und die amerikanische Armut in den Begriffen seiner eigenen, sehr besonderen Geisteshaltung durchlebt. Und «A Clockwork Orange», obschon britisch, handelt vor allem auch von der Sexualität sozialer Klassen, die sich mit geistiger Herrschaft zusammentun. Im amerikanischen Unabhängigen Kino war es Mitte der Sechziger Jahre an der Tagesordnung Jonas Mekas war der leidenschaftlichste und eloquenteste Befürworter dieser Idee , den produktiven Amateurismus kritisch zu fördern gegenüber dem «gutgemachten» Film und dem «glatten» kommerziellen Produkt, welches das Publikum «einwickelt». In seinen Kolumnen zog Mekas selber die Analogie die später von Annette Michelson in ihrem Essay «Film and the Radical Aspiration» wiederaufgenommen worden ist zwischen dieser produktiven Unbekümmertheit und der Verfahrensweise und Ethik des abstrakten Expressionismus. Vinyl ist ein unbekümmerter Film er schert sich wenig um seine Obsessionen, seine Struktur, seine Ikonografie, seine Technik und Darstellung; er ist voller Indifferenz seiner Wirkung gegenüber, so dass selbst Leute, die Warhol bewundern, die späteren, von Morrissey gemachten Filme vorziehen, in denen das Ideal des glatten Kommerzialismus und das ist das Ideal in diesem Land durchweg in unterhaltendem Sinne bemüht wird. Die Wirkung von Vinyl reicht viel tiefer, auch wenn sich vielleicht Fragen stellen. Wenn Vinyl als Unterhaltung konzipiert war, dann ist das sicher gescheitert. Wie so oft bei Warhols Filmen, ist das kein in sich geschlossenes Schaustück, sondern ein Werk, das eine Situation schafft, mit den Wahrnehmungen des Zuschauers, seiner Indifferenz und Fasziniertheit, seiner Neugier und Wut, in jener unbekümmerten Weise spielt, die sich in den Sechziger Jahren als wirkliche Quelle künstlerischer Leistungen erwiesen hat, in den Siebzigern jedoch in einer Art verkaterter Abwehrhaltung, die auch noch das nächste Jahrzehnt zu überdauern droht, abgewiesen worden ist. Die distanzierende Wirkung von Vinyl, die schlagartigen und doch weichen Entfremdungsgefühle, die der Film induziert, funktionieren in der Weise, dass sie die Aussicht auf gewohnte, unmittelbare Befriedigung sei es narrativer oder sexueller Genuss zunichtemachen zugunsten einer anderen, weiter weg liegenden, ungewohnteren Erfahrung. Dieser sekundäre Genuss, wenn er denn so bezeichnet werden kann, besteht in einem absorbierten, kitzelnden Desinteresse, das in einem seltsamen psychischen Zusammenspiel von Selbständigkeits- und Frustrations-Erfahrung wegschaut und wieder hinschaut. Genau davon handeln die Plastik-Träume und fleischlichen Träume von Vinyl: von der Perversität einer aufmerksamen Unaufmerksamkeit, den Schwächen einer Nichtauthentizität, an der man verbissen festhält, dem sexualisierten Verfehlen der Liebe. Stephen Koch, «Stargazer», London/N.Y. 1991 Übersetzung von Johannes Beringer

(Text: Viennale 2005)

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