Vaterland (2002)

D , 2002

Min. 98
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"In Sachsen-Anhalt, nahe der Stadt Zerbst, liegt abseits größerer Straßen, neben einem verlassenen Militärflugplatz, das Dorf Straguth. Ein unwesentlicher Flecken. Der Zeit hinterher. Oder voraus. Der Film beschreibt Menschen dieses stillen Ortes, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig geschehen. Ein Film, wie das Graben einer Grube. Wenn man in Form einer Spirale graben kann. Und ein schwarzes Loch gräbt. Eine archäologische Reise zu Landschaft, Menschen und Dingen, Spuren von Zeitenwechsel und Übergang. Weite Landschaft und detaillierte Zeichnung der Menschen darin. Und immer, wenn man die kleine Kneipe Otto Nathos betritt, ist vom Krieg die Rede. Der Zeit der Jugend." (Thomas Heise)

Kratzt man lange genug an einer Wand, blättert der Putz ab, Schicht für Schicht. Unter dem Tarngrün eines Hangartors tritt schmutziges Grau hervor, dann tiefes rostiges Braun: Ein Palimpsest, die widerspenstige Gleichzeitigkeit von Geschichte(n), die unvereinbar, nicht versöhnt bleiben. Vaterland ist Heises vielleicht sperrigster, rätselhaftester Film darüber, wie die Dinge miteinander "verklebt" sind und doch störrisch keine geschlossene Erzählung bilden wollen. Davon zeugt schon seine Eröffnungssequenz: Die Kamera schwenkt langsam eine nebelverschleierte Flußlandschaft ab, um auf den erhöhten Gleisanlagen einer Bahntrasse zu verharren. Ein glänzender roter IC braust gleich einem Projektil vorbei; die Kamera jedoch steigt herab, verläßt programmatisch die großen Routen und schraubt sich stattdessen hinunter auf einen kleinen Feldweg, der ins Nichts der sachsenanhaltischen Landschaft führt.
Straguth ist ein Ort, den wohl niemand mit Absicht besucht. Noch einmal kommt ein Fremdkörper ins Bild - ein frisch gewachster Audi, der die verlassenen Straßen des Dorfs selbstvergessen passiert. Ansonsten ist es still geworden im Ort: der Flugplatz, im Krieg von jüdischen Zwangsarbeitern errichtet und später von sowjetischen MiGs beflogen, liegt seit Jahren brach, zerschossen in den Gefechtsübungen bundesdeutscher NATO-Spezialkommandos. Verschwunden sind, bis auf Moni mit den blauen Haaren, auch die Frauen: Vaterland ist unter anderem das "Land der Väter", die in der Kneipe sitzen, Karten spielen und vom Krieg als dem, was ein Leben lang anhält, erzählen.
Es gibt zwei Sequenzen in Vaterland, die, gleich dem Chor in einer griechischen Tragödie, die menschlichen Handlungen auf der Bühne dieses vergessenen Ortes (oder Ortes des Nicht-Vergessen-Könnens) kommentieren. Zu Szenen häuslichen Rückzugs erklingt aus dem Off der Text eines Wisenschaftsprogramms: "Wenn ich also in zehn Milliarden Jahren geboren würde", erklärt der Erzähler, "würde ich sehr viel weniger vom Universum zu sehen bekommen als jetzt. Das Universum könnte sich so sehr beschleunigen, dass in weit entfernter Zukunft gar nichts mehr davon zu sehen sein wird. Es wird nur noch uns geben (...) ganz allein mit nichts weiter um uns herum. Und das scheint mir das allerkälteste...".
So kalt vielleicht wie die Nächte der Bombenangriffe, die der 18-jährige Häftling Wolf (Heises Vater, der Philosoph Wolfgang Heise) in seinen Briefen aus dem Arbeitslager nah Straguth beschreibt; so weit entfernt, womöglich, wie das ausgewaschene Videomaterial, das Heise bereits 1987 im und um das Dorf gedreht hat - ein damals, zur Zeit der DDR verhinderter Film, eine Spurensuche in einer Welt, in der die Biografien nie zur Deckung kommen wollen, alles kontingent, zersprengt scheint. "Wahrscheinlich funktioniert Erinnerung überhaupt nur, weil sie eben anders ist als die Wirklichkeit" hat Heise bereits 1993 über jene erste Begegnung mit Straguth, seinen Menschen und der von der Geschichte überdeterminierten Topographie des deutschen Ostens gesagt. Ein Brief aus dem Lager, der von Kant und dem "Schönen" erzählt. Eine vergilbte, russische Zeitung: "Glasnost siegt". Ein IC, der wie ein rotglühendes Projektil die Landschaft durchpflügt. Alles hängt zusammen, nichts ergibt einen Zusammenhang. Quelle: Kinoreal

Länge:100 min

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