STADTNEUROTIKER AUF ARGENTINISCH

Wo ist Wally aka. Walter, die menschliche Nadel im Heuhaufen? Irgendwo in der gezeichneten Menschenmenge versteckt sich der Kleine im rot-weißen T-Shirt und wartet darauf, von Kinderaugen gefunden zu werden. Diese Sehsport-Aufgabe stellt uns ein Wimmelbilderbuch unter der Rubrik „Wally in der Stadt“, und die erfolglose Architektin Mariana ist seit ihrem 14. Lebensjahr daran gescheitert. Sie selber lebt in der Drei-Millionen-Metropole Buenos Aires in einer Wohnung der Kategorie G (auch Schuhkarton genannt), versucht ihre Kreativität in einfallsreichen Auslagendekorationen umzusetzen, leidet noch unter den Nachwehen einer unglücklichen Beziehung und verträgt im Moment außer ihrer männlichen Lieblingsschaufensterpuppe niemanden um sich.

Das wäre SIE. ER hingegen hat es nur zu einer Bleibe der Kategorie H gebracht, ist psychisch noch eine Spur angeknackster, verbringt die meiste Zeit online, was ihm bei seinem Job als Webdesigner entgegenkommt, trauert ebenfalls einer verlorenen Liebe nach und hat als einzige Gesellschaft den kleinen Hund seiner Ex. Beide wohnen sie in derselben Straße, ja sogar im selben Häuserblock und laufen einander fallweise natürlich auch über den Weg (z.B. bei einem grotesk-tragischen Hundeselbstmord) ohne voneinander Notiz zu nehmen. SIE akzeptiert nach langem Zögern die Einladung eines Kollegen zum Essen, doch dieses Date scheitert an ihrer Fahrstuhlphobie; ER lässt sich mit einer jungen Hundesitterin ein, was freilich nur eine kurze Affäre ohne Zukunft bleibt. Und immer wieder kreuzen sich im Lauf eines Jahres die Wege von IHM + IHR.

„Medianeras“ ist aus einem international vielfach preisgekrönten Kurzfilm hervorgegangen, und Regisseur Gustavo Taretto steht bei seinem ersten Spielfilm diesmal mehr als doppelt so viel Zeit zur Verfügung, um seine sympathische urbane Fabel zu entwickeln, in der nicht nur Menschen sondern vor allem Gebäude die Hauptrollen spielen. Wir bekommen jede Menge Bauwerke und nebenbei auch angewandte Architekturgeschichte geboten, wie es sich für einen Film gehört, dessen Titel so viel wie ‚Trennwände‘ oder ‚Brandmauern‘ bedeutet.

Die ersten vier Minuten über zeigt Taretto ausschließlich städtische Standbilder, um uns einen Eindruck von Buenos Aires‘ chaotischer Bauweise zu verschaffen: eine verwirrende Formenvielfalt und abenteuerliche Stilmischungen tun sich vor uns auf; wodurch zugleich die seelische Zerrissenheit der Figuren versinnbildlicht wird, getreu einer Erkenntnis des spanischen Psychiaters und Schriftstellers Luis Martín-Santos: „Der Mensch ist das Abbild der Stadt und die Stadt das nach außen gestülpte Innere des Menschen.“

Architektur kann sich jedoch auch als beziehungsstiftend erweisen - manchmal reicht ein kleines nachträglich angebrachtes Fenster in einer Trennwand, um neue hoffnungsverheißende Perspektiven zu eröffnen. Und zuletzt haben Mariana und Martin einander natürlich doch gefunden – wenigstens dieses Wimmelbild wurde erfolgreich gelöst und wir vergeben 8 von 10 möglichen Paarläufen durch die Stadt.

(franco schedl)