"Oper – L’Opéra de Paris": Ein Stier auf der Bühne
In Gestalt von Frederick Wiseman hat bereits einmal ein Dokumentarfilmer ausgedehnte Streifzüge mit der Kamera durch die Pariser Oper im Palais Garnier unternommen. Der berühmte Amerikaner war 2009 allerdings nur am Ballett interessiert, während sein jüngerer Kollege Jean-Stéphane Bron mit dem Vorsatz angetreten ist, die Opéra Bastille „wie ein Taucher zu filmen, der eine unbekannte Welt entdeckt.“
Biotop der Künste
Über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren hinweg hat er allen nur denkbaren Bereichen in diesem Biotop der musikalischen Künste seine Aufmerksamkeit geschenkt. Wir erhalten Einblicke in den Opernalltag auf, neben, hinter, unter und über der Bühne, bekommen Proben und Aufführungen ausschnittweise ebenso zu sehen, wie Gesprächsrunden mit dem neuen Direktor, der zunächst keinen sehr sympathischen Eindruck hinterlässt, sondern eher wie ein eitler Wirtschaftsfunktionär wirkt; allmählich glaubt man dann aber doch, dass er etwas von seinem Metier versteht.
Hektischer Opernalltag
Eine Grundsatzdebatte über Ticketpreise wird geführt, Kinder erhalten Geigenunterricht, ein berühmter Choreograph kündigt seinen Vertrag auf, ein erkrankter Sänger sorgt für Hektik, als kurzfristig Ersatz für eine Hauptrolle in Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ gefunden werden muss, und bei einer anderen Inszenierung steht sogar ein ausgewachsenes Rindvieh auf der Bühne – und zwar nicht etwa der Ochs von Lerchenau im „Rosenkavalier“; stattdessen soll ein echter Stier Schönbergs Opernfragment „Moses und Aaron“ zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen.
Identifikationsfigur
Ein junger vielversprechender russischer Sänger, der in Paris ein mehrjähriges Engagement antritt, wird sehr bald zu unserer Identifikationsfigur. Obwohl der Bass-Bariton eindeutig die bessere Singstimme hat, ist er ebenso wie wir in ein völlig neues Umfeld versetzt und sieht alle Licht- und Schattenseiten des renommierten Gebäudes zum ersten Mal. Dieser filmische Opernbesuch wird über weite Strecken tatsächlich zu einem erfreulichen Erlebnis für Augen und Ohren, zumal der Regisseur durchaus auch Sinn für Ironie an den Tag legt.
8 von 10 Da Capo-Rufen