"Alles Licht, das wir nicht sehen": Die wahre Geschichte dahinter
Netflix hat einmal mehr ein Prestige-Projekt am Start, das wohl zeigen soll, wohin all die Gelder fließen, die mit den stetig steigenden Abopreisen eingenommen werden: "Alles Licht, das wir nicht sehen" mit Mark Ruffalo, Hugh Laurie, Lars Eidinger und Louis Hofmann ist eine Story rund um Liebe, Hoffnung, Wunder, menschliche Verbundenheit und das Licht der menschlichen Seele, das selbst dann strahlend hell erstrahlen kann, wenn rundherum eine alles verschlingende Dunkelheit herrscht. Die Dunkelheit eines Zweiten Weltkriegs zum Beispiel.
Bei so viel "Histokitsch" fragt man sich willkürlich: Basiert "Alles Licht, das wir nicht sehen" auf wahren Ereignissen?
Die Technik, ein Wunder
Grundsätzlich ist die Antwort simpel: Bei der vierteiligen Miniserie handelt es sich um die Adaption des gleichnamigen Romans von Anthony Doerr auf dem Jahr 2014, ein zigfacher Millionen-Bestseller (zumindest in den USA; im deutschsprachigen Raum floppte er pikanterweise) und mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Doch Doerr wiederum wurde sehr wohl von wahren Ereignissen inspiriert.
In einem Interview mit "NPR" verriet der Autor, dass ihm die Thematik rund um von Menschenhand geschaffener Technik, die uns die Möglichkeit gibt, uns mit lieben Menschen zu verbinden und uns deshalb Hoffnung in schweren Zeiten geben kann, während einer Zugfahrt kam. "Wir fuhren gerade in eine U-Bahnstation ein", erinnert sich Doerr. "Der Mann vor mir telefonierte gerade – das war im Jahr 2004 – und der Anruf wurde unterbrochen. Und er wurde irgendwie wütend, ein wenig peinlich wütend, unangemessen wütend.
„Und ich weiß noch, dass ich dachte: Was er vergisst – was wir eigentlich alle ständig vergessen – ist, dass das ein Wunder ist. Er benutzt diesen kleinen Empfänger und Sender, dieses kleine Radio in seiner Tasche, um Nachrichten mit Lichtgeschwindigkeit zu senden, mit jemanden, der vielleicht Tausende von Kilometern entfernt ist." Das berührte Doerr auf eigenartig intensive Weise: "Für mich ist das ein Wunder." Die ursprüngliche Motivation für seinen Roman, erklärt Doerr, bestand also darin, "eine Zeit heraufzubeschwören, in der es ein Wunder war, die Stimme eines Fremden in Ihrem Zuhause zu hören.“
Die Historie von Saint-Malo
Auch die Idee, dass diese Technik zur Allegorie von Seelenverwandtschaft zwischen einem jungen Mann und einer jungen Frau werden sollte, hatte Doerr nach eigenen Aussagen schon früh. "Ich hatte einen Jungen, der irgendwo gefangen war, und ein Mädchen, das ihm [im Radio] eine Geschichte vorlas, [im Kopf]."
Doch wie kam es zum historischen Setting? Wieso der Zweite Weltkrieg, wieso das französische Küstenörtchen Saint-Malo (das tatsächlich existiert)? Letzteres besuchte Doerr circa 2005 während einer Buchtour. Er war angetan von der Atmosphäre des Ortes, doch von dessen traurigen historischen Hintergrund erfuhr er erst ein wenig später. "
Während des Zweiten Weltkriegs nämlich wurde Saint-Malo im Juni 1940 von den Deutschen besetzt. Im August 1944 wurde die Innenstadt beinahe vollständig durch anglo-amerikanische Bombardierungen zerstört, da der damalige Festungskommandant sich weigerte zu kapitulieren. Heute ist Saint-Malo berühmt für seinen möglichst originalgetreuen Wiederaufbau des historischen Stadtkerns, der europaweit als vorbildlich gilt. Zudem ist Saint-Malo der bedeutendste Hafen an der bretonischen Nordküste.
Die Rolle des Radios im Zweiten Weltkrieg
Doerr beschloss, das von ihm so geliebte Thema des technischen Wunders von Sender und Empfänger mit der Geschichte von Saint-Malo und dem düsteren Historienabschnitt des Zweiten Weltkriegs zu verbinden. Denn dass das Radio damals ein sehr mächtiges und einflussreiches Medium war, vor allem, was Propaganda, aber auch Widerstandsbewegungen betraf, ist durchaus historisch belegt.
"Ich fing an, über Radioübertragungen und Propaganda im nationalsozialistischen Deutschland zu lesen", so Doerr im Interview mit "Goodreads". "Es begann tatsächlich damit, wie man das Ausmaß der Gewalt des Völkermords in Ruanda anhand der Stärke der dortigen Radioübertragungen abbilden kann. Diskjockeys schürten im Radio buchstäblich Gewalt.“
Und weiter: "Man konnte an der Empfangsstärke erkennen, wie gewalttätig es dort war. Das war ein so anschauliches Beispiel für die Macht des Radios. Also fing ich an, alte Sendungen zu lesen, die das Dritte Reich an seine Bürger sendete, und das brachte mich auf die endgültige Idee des Buches."
Gab es Marie-Laure, Werner und Co. wirklich?
Und die Figuren selbst? Die sind generell frei erfunden, wenn auch an bestimmten Charakterschablonen wie "der grausame Nazi" angelehnt. Für die Figur der blinden Marie-Laure habe er sehr viel recherchiert, betont Doerr im Gespräch mit "Goodreads". So habe er viele Memoiren über blinde Menschen gelesen, besonders über Personen, die bereits als Kind ihr Augenlicht verloren hatten.
Existiert der Diamant "Das Meer der Flammen" tatsächlich?
Der sagenumwobene Diamant, den Marie-Laure und ihr Vater vor den Nazis beschützen, dient in der Story vor allem als klassischer MacGuffin. Doch auch hier gibt es tatsächlich eine reale Inspiration – nämlich ein Saphir, von dem Menschen lange Zeit angenommen haben, er sei verflucht. Er ist heute im British Natural History Museum zu bewundern. Doch auch historische Fotos, die zeigen, wie Louvre-Mitarbeiter teure Kunst wie Rembrandt-Gemälde gut verpacken, um sie vor den Nazis zu schützen, brachten Doerr auf die Idee für die Story rund um "Das Meer der Flammen" (via "Collider").
Wer hätte also gedacht, dass sich hinter so viel Kitsch so viel Wahres verbergen kann?