"Mr. Holmes": Der Meisterdetektiv wird sich selbst zum Rätsel

Ein alter Meisterdetektiv
Ziemlich schlimm, wenn sogar das Gehirn eines Ermittlungsprofis im fortgeschrittenen Alter nicht von Erinnerungstrübungen verschont bleibt und die Demenz droht.

Der hagere alte Mann bietet auf den ersten Blick keine Besonderheiten, aber sobald man seinen Namen erfährt, ändert sich das schnell. Mr. Sherlock Holmes in eigener Person ist es, den uns dieser Film lange nach seiner großen Detektiv-Zeit präsentiert: 1947 hat er das biblische Alter von 93 Jahren erreicht und befindet sich seit drei Jahrzehnten im wohlverdienten Ruhestand als Hobby-Imker auf einem Landsitz in Sussex, umsorgt von einer Haushälterin und deren 11jährigem Sohn.

Wo ist eigentlich sein Freund und PR-Agent Dr. Watson abgeblieben? Der hat sich vor fast 30 Jahren nach einer Eheschließung aus dem Geschäft zurückgezogen. Auch Holmes war damals kurz nach Kriegsende gerade mit seinem allerletzten Fall beschäftigt, bei dem offenbar etwas schief gelaufen ist, was ihn zum Rückzug aus der Öffentlichkeit veranlasst hat. Nach all diesen Jahren versucht er sich nun erstmals selber als Autor: er beginnt, seine Erinnerungen an den Fall aufzuschreiben - und zwar in erster Linie, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Er ist inzwischen nämlich nicht nur körperlich gebrechlich, sondern auch sein scharfer Geist lässt nach. Ziemlich schlimm, wenn sogar das Gehirn eines Meisterdetektivs im fortgeschrittenen Alter nicht von Erinnerungstrübungen verschont bleibt und die Demenz droht.

Während Billy Wilder für „Das Privatleben des Sherlock Holmes“ einst ein paar skandalöse Enthüllungen parat hatte, kommt diese Geschichte ohne pikante Details aus. Stattdessen zeigt uns Ian McKellen einen zutiefst menschlichen Sherlock, wie man ihn bisher noch nie gesehen hat. In den Rückblenden, die 1919 spielen, tritt er noch als Holmes in Erscheinung, der so ziemlich dem Bild des klassischen Gehirnakrobaten entspricht; 1947 wird er hingegen von Emotionen übermannt: der kalte Intellektuelle muss sich plötzlich mit Einsamkeit, Schuldgefühlen und der eigenen Hinfälligkeit auseinandersetzen. Holmes wird sich hier selbst zum Rätsel und der Film nimmt uns mit auf die Erforschung des letzten Lebensabschnitts eines Genies, dem es schwer fällt, Frieden mit sich zu schließen.

Diese Romanverfilmung (Mitch Cullin schrieb das Buch, weil sein Vater an Demenz litt) spielt außerdem gekonnt mit unserer Erwartungshaltung und gewinnt einen besonderen Witz durch die Konfrontation des Detektivs mit seinem Mythos: so sitzt der alte Mann einmal im Kino und sieht sich äußerst unzufrieden eine Filmversion seiner Abenteuer an. Wir lernen aber auch noch etwas anders: etliche Besonderheiten, die man mit dieser Figur in Verbindung bringt, sind bloß auf Ausschmückungen durch Watsons Phantasie zurückzuführen; ja, nicht einmal die Baker Street-Adresse hat gestimmt. Kein Wunder, dass sich Holmes angeblich bis ins hohe Alter geweigert hat, eine der berühmten Geschichten über sich selbst zu lesen. Wer sich hingegen weigert, diesen Film zu sehen, sollte schnellsten einen Detektiv beauftragen, den abhanden gekommenen Verstand zu suchen.

9 von 10 unvergesslichen Aufklärungspunkten.

(franco schedl)