Ljubov', eine gebildete, schöne Frau und Opernsängerin von Beruf, fährt zusammen mit ihrem 20-jährigen Sohn Andrej in ihre Heimatstadt Jur'ev-Pol'skij. Sie will Russland für ein Engagement in Wien verlassen und ihrem Sohn vorher noch ein Stück Heimat zeigen. Auf der Autofahrt in die ca. 200 km von Moskau entfernte altrussische Kleinstadt, wo der Film auch gedreht wurde, macht Andrej ihr Vorwürfe, ihr Leben nur der Kunst zu widmen. Als sie am Bestimmungsort ankommen, finden sie eine gottverlassene Provinzstadt vor, in der die Zeit vor Jahrzehnten stehen geblieben zu sein scheint. Nur die wenigen historischen Gebäude, wie Kreml' und Glockenturm, zeugen noch von der einstigen Größe und Bedeutung. Während der Besichtigung verschwindet Andrej spurlos. Ljubov' beginnt nach ihrem Sohn zu suchen und bleibt. Dabei legt sie nach und nach ihr früheres Leben ab. Ihre Wandlung kulminiert zunächst im Verlust ihrer Stimme und schließlich in der Aufgabe ihrer künstlerischen Individualität, als sie sich in den örtlichen Kirchenchor einreiht.
Die im Film erzählte Wandlung der Operndiva führt über den Weg der Selbstaufgabe, der Selbstaufopferung und des Leidens. Damit ruft der Film die russische Literatur des 19. Jahrhunderts, insbesondere die literarische Welt Dostoevskijs, auf. Diese Lesart, die der Film offensichtlich anbietet, bewog einige russische Filmkritiker dazu, JURJEV DEN als einzigartige Manifestation der russischen Seele und der in der russischen Kulturtradition verankerten Suche nach Spiritualität zu preisen. Ganz so einfach scheint es sich der Regisseur Kirill Serebrennikov, der sich in den letzten 10 Jahren vor allem als Theaterregisseur einen Namen gemacht hat und als Vertreter eines neuen Dokumentartheaters gilt, dennoch nicht zu machen. So vermeidet Serebrennikov durch den naturalistischen Darstellungsmodus jegliche Idealisierung und bleibt auch der russischen Kulturtradition, insbesondere der orthodoxen Kirche gegenüber kritisch.
Im Mittelpunkt einer zweiten, weniger offensichtlichen Lesart der Geschichte einer Moskauer Berühmtheit, die in die sozialen Niederungen der russischen Provinz absteigt, steht der Verlust als existentielle Grundbedingung des Lebens. Dabei geht es vor allem um die philosophische Frage, was Freiheit individuell bedeuten kann - eine Frage, die bereits im Filmtitel anklingt. So bezeichnet "Jur'ev den'" den Georgstag (nach dem julianischen Kalender der 26. November), an dem im mittelalterlichen Russland die Bauern ihren Dienstherren wechseln durften. Wovon sich Serebrennikovs Heldin befreit, bleibt der jeweiligen Lesart überlassen: ob von Stolz und Eitelkeit, wie nicht zuletzt für die Glamour-Kultur der russischen Hauptstadt bezeichnend, oder aber von der Angst des Verlusts. So verliert Serebrennikovs Heldin nicht nur ihren Sohn, sondern vor allem auch ihre romantisierten Vorstellungen von einem Russland, das es so nicht gibt und wohl auch nie gegeben hat.
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Details
- Schauspieler
- Ksenija Rappoport, Roman Šmakov, Sergej Sosnovskij, Evgenija Kuznecova
- Regie
- Kirill Serebrennikov
- Kamera
- Oleg Lukicev
- Author
- Jurij Arabov
- Musik
- Sergej Nevskij