HARDCORE-CHRSTIN IN AKTION
Lassen wir vorerst den Glauben bei Seite und halten uns lieber an Tatsachen, denn es ist filmtheoretisch einwandfrei erwiesen, dass wir es hier mit dem Mittelteil von Ulrich Seidls Paradies-Trilogie zu tun haben. Der Suche nach irdischer Liebe im Auftakt Paradies: Liebe folgt nun die Sehnsucht nach geistiger (aber auch fleischlicher) Vereinigung mit Jesus Christus. Es scheint, als würde Seidl seine Doku Jesus, du weißt von 2003 fortsetzen und sich dabei auf einen einzigen ausgewählten Fall konzentrieren; dass wir es eigentlich nur mit einem Spielfilm zu tun haben, vergisst man dank seiner Arbeitsweise ohnehin ständig.
Die spätestens seit Hundstage legendäre Maria Hofstätter hat diesmal ihre Zunge nicht auf Dauerfeuer eingestellt, sondern entwickelt eine andere Obsession: als Hardcore-Christin mit dem katholisch unbedenklichen Namen Anna Maria nimmt sie das Kreuz auf sich bzw. die Wandermuttergottes in den Arm und zieht missionierend von einer Wiener Wohnung zur nächsten, wo sie hauptsächlich Menschen mit Migrationshintergrund penetrant salbungsvoll auf die Nerven fällt.
Zum absoluten Höhepunkt wird ihr Besuch bei einem in die Jahre gekommenen Muttersöhnchen (der Seidl-Sehern als Busenfreund bekannte René Rupnik): dieser nur mit einer Badehose bekleidete Messie erhält die Marienstatue vorübergehend als Leihgabe, widersteht den hartnäckigen Aufmunterungen zum gemeinsamen Gebet aber auf hinreißend abgedrehte Weise, indem er über Lockspeck und weibliche Rundungen vor sich hinplappert.
Anna Marias Zwangshandlungs-Palette umfasst neben solchen ambulanten Bekehrungsversuchen und einem eher harmlosen Gebetskreis auch Selbstgeißelung oder Rutschen auf Knien und andere Bußübungen, bei denen durchaus Blut fließt und die Haut in Fetzen geht; v.a., um den Gedanken an Sex abzutöten, der bei ihr eine Mischung aus Angst, Ekel und Faszination auslöst. Sie selbst lässt höchstens den am Kruzifix hängenden Christus zu sich unter die Bettdecke.
Als eines Tages unverhofft ihr querschnittgelähmter ägyptischer Ehemann im Wohnzimmer sitzt, kommt es sehr rasch zum Kampf der Religionen dem Kräftemessen zwischen Islam und Christentum im Vorstadthaus steht nichts mehr im Weg. Gerade weil Seidl wie üblich mit höchstem Realismus auftrumpft, wird das nicht gerade glaubwürdige Eheverhältnis zum einzigen Schwachpunkt des Films: diese Wendung ist allzu deutlich auf den gewünschten Effekt hin konstruiert. Weshalb hätte die bigotte Kampfkatholikin ausgerechnet einen Ungläubigen heiraten sollen, selbst wenn sie erst durch den Unfall des Mannes zum wahren Glauben gefunden hat? Aber sogar die vermeintliche Schwäche erweist sich als Glücksfall, weil wir dadurch den Schauspiel-Laien Nabil Saleh in der Rolle des gelähmten Muslims erleben dürfen: Es ist kaum zu fassen, mit welcher Intensität sich dieser Mann seine Figur anverwandelt.
Auch wer mit Katholizismus als allein selig machender Religion nichts anfangen kann, wird hier in Versuchung geraten, Saleh und Maria Hofstätter auf Grund ihrer Leistungen in den Rang von Filmheiligen zu erheben und 9 von 10 möglichen Rosenkranzperlen an sie vergeben.