"Elle": Die Opferrolle wird hier nicht gespielt
Paul Verhoeven erzählt auch mit fast 80 noch keine milden Altherrengeschichten, sondern hat die Lust am intelligenten Provozieren und Schockieren nicht verloren, was schon aus dem Umstand hervorgeht, dass sein Film in Cannes durch die Presse als ‚Vergewaltigungskomödie‘ angekündigt wurde. Das klingt sehr verstörend, wird dem Werk aber in keiner Weise gerecht. Zugegeben: in den Händen eines weniger versierten Regisseurs wäre diese Story vermutlich fürchterlich gescheitert und hätte wohl einen unerträglichen Mischmasch aus skandallüsternem Torture-Porn und bizarrer Familienkomödie ergeben. Verhoeven hingegen bringt eine geniale Verquickung zwischen Gesellschaftssatire und dem intensiven Psychogramm einer ungewöhnlichen Frau zustande und motiviert Isabelle Huppert zu einer ihrer besten Leistungen - was bei deren langer Filmliste keine Kleinigkeit ist.
Vergewaltigung vor Katzenaugen
Huppert spielt eine im Geschäftsleben erfolgreiche und entsprechend wohlhabende Frau, die eines Tages in ihrem Haus von einem maskierten Eindringling überfallen, niedergeschlagen und vergewaltigt wird, während ihre schwarze Hauskatze schnurrend daneben sitzt und das Geschehen auf dem Fußboden neugierig beobachtet.
Die weibliche Hauptfigur benimmt sich dann jedoch ganz und gar nicht so, wie man es von einer Frau, der gerade vergleichbar Schreckliches widerfahren ist, erwarten würde. Sie kontaktiert weder die Polizei, noch spricht sie vorerst mit jemandem über die Misshandlung, sondern tut so, als wäre nichts geschehen; legt sich aber dann nachts doch lieber mit einem Hammer in der Hand ins Bett. Michèle ist einfach keine Frau, die sich mit der gesellschaftlich vorgesehenen Opferrolle abfinden würde. Immerhin stammt sie auch aus keiner gewöhnlichen Familie: ihr Vater hat vor Jahrzehnten ein paar furchtbare Dinge getan und ist deshalb noch immer inhaftiert, und sie selber wird nach wie vor von hasserfüllten Menschen beschimpft oder attackiert, falls man sie erkennt.
Das Alltagsleben geht weiter
Daneben gibt es die ganz normalen Probleme und Herausforderungen des Alltagslebens: ihre mit Botox aufgespritzte Mutter leistet sich einen jungen Liebhaber, den Michèle verachtet; von der schwangeren Frau ihres Sohnes hält sie ebenfalls nichts; auf die neue junge Freundin ihres Exmannes ist sie eifersüchtig (und hat nicht nur spitze Bemerkungen, sondern auch ein spitze Überraschung in einem Vorspeisenröllchen für die Rivalin bereit); den verheirateten Nachbarn findet sie sexuell anziehend und trifft sich zwischendurch mit einem anderen Geliebten, der noch dazu mit ihrer beste Freundin liiert ist. Trotzdem ist die Vergewaltigung natürlich nicht vergessen (in ihrer Phantasie erlebt sie die Szene immer wieder oder spielt sie mit anderem Ausgang noch einmal durch) und der Gewalttäter meldet sich obendrein regelmäßig per SMS mit obszönen Botschaften bei ihr.
Man hat zwar schon sehr bald einen Verdacht, wer hinter der schwarzen Gesichtsmaske stecken könnte, doch das macht den Film nicht im Geringsten vorhersehbarer. Der Zuschauer muss bei Verhoeven einfach mit allem rechnen und ist bereit, zu glauben, dass in der jeweils kommenden Minute gleich etwas sehr Komisches oder absolut Böses geschehen könnte.
So viel lässt sich bereits zu Jahresbeginn vorhersagen: es wird 2017 für andere Regisseure schwer, diesen im Februar gestarteten Film zu toppen.
10 von 10 e(l)leganten Begeisterungspunkten.