"Immer bleibt etwas übrig, ein Rest, der nicht aufgeht. Und am Ende habe ich den Anfang fast vergessen. Eines Tages holt dich die Geschichte ein." Was übrig bleibt, sind zunächst die Reste von alten Geschichten. Zum Beispiel jene von Mario, an den sich die schwarze Sozialarbeiterin Conny erinnert, während sie im Regen durch Berlin fährt. Es war im Jahr 1981, als sie Mario, einen Jungen aus Eisenhüttenstadt, das erste Mal gesehen und sich in ihn verliebt hat. Dann fragt sie Thomas Heise, wohin sie eigentlich fahren soll. "Zum Friedhof", antwortet er knapp. Da weiß man schon, daß diese Geschichte kein gutes Ende gefunden hat.
Bereits das erste Bild enthält einen unauflösbaren Widerspruch: Ein langsamer Schwenk über ein sozialistisches Fliesenfresko, jugendliche, fröhliche Gesichter sieht man darauf, ein Marsch am 1. Mai - darüber liegt Neil Youngs "After the Goldrush": "Thinking about what a friend has said, I was hoping it was a lie." Der nächste Schnitt zum Titel ist hart. Undefinierbarer Lärm. Eisenzeit steht auf einer grauen Fläche.
Der Film sollte schon 1980 entstehen. Heise wollte eine Gruppe von Jugendlichen aus Stalinstadt, später Eisenhüttenstadt, der ersten sozialistischen Stadt der DDR, porträtieren. Er kam bis zum ersten Drehtag, dann sprach ihn ein Mann, "der etwas zu sagen hat" - so der Off-Kommentar - in der Kantine an: "Sie machen nicht diesen Film." Mario, Tilo - er ist derjenige, der immer Neil Young nachspielte -, Karsten und Frank - sie waren nicht die Vorzeige-Jugend des Staates. Die ersten beiden sind tot, als Heise zehn Jahre später Eisenzeit macht. Tilo rettete er schon 1980 einmal das Leben, indem er dessen Kopf aus dem Gasherd zog.
Die Beziehung Heises zu seinen Figuren ist in Eisenzeit enger als in den anderen Filmen, man spürt die unterdrückte Wut. Dennoch bleibt seine Voice-Over von geradezu Brechtscher Strenge und Distanz - fast gehetzt und kaum emotionalisiert werden die Fakten, Erinnerungen, Zitate vorgetragen. Die Bilder, die dabei zu sehen sind: Eine niedrige, unbevölkerte U-Bahn-Passage, die in Kreisschwenks durchmessen wird; ein Nicht-Ort mit vielen Anschlüssen, der sich wie eine Kupplung der Geschichte(n) ausmacht; oder Statuen aus Stein, deren Materialität in der Großaufnahme zu Tage tritt. Bewegung und Stillstand.
Die vergangenen Ereignisse, an denen die Affekte weiter haften, und ihre Zusammenhänge werden von Heise in Etappen rekonstruiert: Er befragt die Eltern, die Geschwister der Verstorbenen, die Freunde, die Lehrerin, er liest aus vergilbten Klassenbüchern vor - und immer wieder gibt es Fotos von damals zu sehen. Die Gespräche sind vom Stocken bedroht, sie verschweigen so beredt wie sie erhellen: "Was bleibt?", fragt Heise Conny. "Na nix." Lange Pause. "Ich wees nicht." Die Eltern, merkbar nervöser, haben ihre Ansichten nicht revidiert, die Lehrerin drückt Verständnis für Schüler aus, die für die Stasi gespitzelt haben. Heise aus dem Off: "Man will immer das Gute, und dann klappt's nicht."
Was sich dabei abzeichnet, ist das Aufbegehren einer Generation gegen die bleiernen Verhältnisse und gegen Eltern, die so angepaßt waren, daß sie ihre Kinder vom Staat erziehen ließen. Beziehungsweise die Unfähigkeit dieses Staates und dieser Eltern - die sich in Eisenhüttenstadt offenbar besonders nahe standen - auf ihre Söhne anders als dogmatisch zu reagieren. Noch heute sind sie überzeugt davon, das Richtige getan zu haben, wenn sie ihr Kind in den Jugendwerkhof, eine Art Jugendgefängnis, bringen ließen.
Was sich dabei abzeichnet, Aussage gegen Aussage, Schicht für Schicht, ist die Tragik einer Generation, die nur flüchten wollte, aber nicht wußte, wohin. "Ich war gegen alle und gegen mich selbst", wird Tilo zitiert, der zum Alkoholiker wurde. Sein Bruder erzählt von den Umständen seines Todes - wie ihm Tilos Abschiedsbrief vorenthalten wurde. Madlong, die Mario geheiratet hat, führt später an einer Tankstelle im Auto aus, wie dieser sukzessive verfiel und Blut auszuscheiden begann. Es ist aber auch nicht so, daß man im Westen (oder im wiedervereinigten Deutschland) glücklicher würde: Nicht nur Marios Mutter kritisiert die Entwicklung nach der Wende. Eisenzeit ist grundsätzlicher in seiner Kritik, denn es geht um die Freiheit, sich als Subjekt zu entwerfen - eigentlich um die Verhinderung dieses Prozesses. Darum steht am Ende auch die Erzählung Franks, des Überlebenden: Er führt die Anklage, aus ihm spricht immer noch der Haß, wenn er an seinen Vater denkt, der ihn erniedrigt und verprügelt hat. Grundlos - weil er einen Sohn bekam, der an seine Welt nicht mehr glauben konnte. Quelle: Kinoreal
Länge: 87 min
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Details
- Regie
- Thomas Heise