EINE SELTSAME SACHE NAMENS SEX

Fliegenfischen, Bäume und ihre Blätter, Kuchengabeln, die Art, sich die Fingernägel zu schneiden, Edgar Poes schreckliches Sterben, Bachsche Polyphonie… ach ja: und natürlich Sex. Das sind die wichtigsten Themen in Lars von Triers monumentalem Abschluss seiner sogenannten „Trilogie der Depression“. Wenn Sex zum Hochleistungssport und die Jagd nach der Lust zur Belastung wird, kann das ganz schön aufreibend (um nicht zu sagen: wundscheuernd) sein; völlig zu schweigen vom Zeitaufwand für die Nymphomanin, den zahlreichen Männern zu antworten und ihre Besuchszeiten zu koordinieren.

Wer sich jedoch darauf eingestellt hat, hier reiche Beute für voyeuristische Gelüste zu finden, wird eher enttäuscht sein (die längere Hardcore-Fassung wurde nur ein einziges Mal in Berlin gezeigt) – und Lars von Trier scheint unsere Augen gleich von Anbeginn auf Entsagung einzustimmen, wenn er sein Werk rund eine Minute lang in absoluter Dunkelheit beginnen lässt. Nur entfernte Zuggeräusche und das Tropfen von Wasser sind zu hören. Als es dann endlich hell wird, fällt Schneeregen und wir befinden uns in einem trostlosen Hinterhof aus Backsteinbauten: die Kamera gleitet an den Mauern entlang, um Wellblechdächer, Mülltonnen und andere Gegenstände wie für ein Stillleben einzufangen; plötzlich findet sich inmitten dieser Aufzählung des Leblosen auch eine menschliche Hand und schließlich ein ganzer weiblicher Körper, der, von Schlägen verunstaltet, verrenkt auf dem Pflaster liegt. So sachlich-kalt wird die selbstdiagnostizierte Nymphomanin Joe (ihr Nachnamen bleibt uns unbekannt) eingeführt. Kurz darauf sammelt sie ein vorbeikommender älterer Mann auf und verfrachtet die Ruhebedürftige in seiner benachbarten schäbigen aber bücherreichen Wohnung ins Bett, wo sie bei einer Tasse Tee eine Lebensbeichte abzulegen beginnt, von ihrem intellektuellen Gastgeber durch meist kluge Einwürfe und Ergänzungen unterbrochen.

Dadurch wird „Nymphomaniac“ im Grunde zu einem Essayfilm, dessen weit auseinander liegende Themenbereiche jedoch alle eine sexuelle Nutzanwendung zulassen. Eine weitere unglaublich witzige Verfremdungsebene erreicht von Trier teils durch wiederholte Einblendungen von Schautafeln mit mathematischen Formeln oder physikalischen Details, teils durch dokumentarische Einsprengsel über die Entwicklung von Tierlarven oder Chorgesang. Der dokumentarische Charakter wird auch noch dadurch unterstrichen, dass Joes Erzählung wie eine klinische Fallstudie klingt, bei der die meisten Protagonisten statt Namen nur Buchstaben tragen.

Zu den intensivsten Szenen zählt Uma Thurmans knapp 10minütiger Auftritt: als Ehefrau, die wegen Joe von ihrem Mann verlassen wurde, taucht sie mit dessen drei kleinen Söhnen in der Wohnung ihrer Konkurrentin auf und hält mit ätzender Schärfe einen Monolog der Verzweiflung.

Das Ende von Teil 1 kommt relativ abrupt, doch man kann davon ausgehen, dass der gewählte Moment einen Wendepunkt in Joes Geschichte markiert, die ab nun wohl eine härtere Gangart anschlagen wird, um das vermisste körperliche Empfinden durch Einsatz stimulierender Schmerzmittel auszugleichen – darauf deuten ein paar kurze vor dem Abspann eingeblendete Appetizer auf Teil 2 hin. Dort kommt Charlotte Gainsbourg dann sicher auch als Schmerzensfrau zum Zug, während sie vorerst bloß als Erzählerin auftritt und ihrem Alter – nein: Jünger Ego Stacy Martin das sexuelle Ausagieren überlässt. Mit dieser jungen Französin stellt uns Lars von Trier übrigens eine sensationelle Neuentdeckung vor und zweifellos verhilft er hier Martin - wie einst Emily Watson - zum internationalen Durchbruch. 9 von 10 sinnlich aufreizenden Kuchengabeln.