EINE SCHWERGEWICHTIG-ZARTE ERSTE LIEBE

So überraschend dezent kann Ulrich Seidl also auch sein, obwohl sich das Thema unter seiner Regie leicht zu einem gewagten Aufreger hätte entwickeln können: immerhin lässt er ein 13jähriges Mädchen ein Auge auf einen Erwachsenen werfen, der für diese kindliche Aufmerksamkeit absolut nicht unempfänglich ist. Dennoch geht Seidl behutsam und zart vor - seine Paradies-Trilogie klingt mit einer sehr züchtigen ersten Liebe oder eher Schwärmerei aus.

Zugleich wird die Film-Folge in diesem Abschlussteil noch einmal etwas stärker miteinander verzahnt: Melanies Tante, die Glaubensfanatikerin aus dem mittleren Film des (anti)paradiesischen Triptychons, hat anfangs einen Kurzauftritt, und die Mutter des Mädchens ist nicht so leicht ans Telefon zu kriegen, weil sie gerade in Kenia urlaubt, wie man aus „Paradies: Liebe“ wissen sollte.

Ein Diätcamp irgendwo im Wechselgebiet dient als Schauplatz dieser vorsichtigen und von vorne herein zum Scheitern verurteilten Annäherung zwischen Jung und Alt. Dabei ergeben sich allerdings Doktorspiele, die freilich über einen entblößten männlichen Oberkörper nicht hinausgehen.

Wie das Leben in einer solchen Lokalität abläuft, wird der Exaktheitsfreund Seidl zweifellos genauestens recherchiert haben. Für einen normalgewichtigen Außenstehenden wirkt es jedoch überraschend, wie wenig Angestellte das Gebäude mit dem Charme der 50er Jahre für die 14 übergewichtigen Jugendlichen bereithält. Zumindest kommen nur drei Erwachsene ins Bild: Der Turnlehrer schlägt seinen Schutzbefohlenen gegenüber einen Kasernenhofton an und veranstaltet faschistoide Machtspiele, während eine Trainerin höchstens ein Motivationsliedchen singen lässt oder mit Trekkingstöcken die Gruppe anführt, aber ansonsten stumm und unauffällig bleibt. Der Dritte ist besagter Arzt, über dessen Privatleben wir keine näheren Einzelheiten erfahren, dem wir aber jedes denkbare dunkle Geheimnis zutrauen würden, da Joseph Lorenz ihn mit hinterhältiger Jovialität verkörpert.

Als Reaktion auf den Drill halten sich die Mädels auf ihrem Zimmer durch Partys mit Flaschendrehen schadlos oder unternehmen nächtliche Streifzüge in die Küche (was zu einer der witzigsten Szenen des Films Anlass gibt) und einmal büchsen Melanie und Freundin sogar in den örtlichen Tanzclub aus, wo die 13jährige als Alkoholleiche zurückbleibt.

Fast scheint es, als hätte Seidl ein bisschen Angst vor der eigenen Courage bekommen und wollte auf keinen Fall zu weit gehen – immerhin räumt er in einem mit Claus Philip geführten Interview ein, er sei „vielleicht manchmal zu behutsam mit den Mädchen und Burschen“ umgegangen. Andererseits wird man wohl lange nach einem Regisseur suchen müssen, der es fertig bringt, dass sich Jugendliche so natürlich vor der Kamera bewegen und unterhalten.

Außerdem hält der Film ein paar Seidl-untypische Überraschungen bereit und gewinnt in manchen Momenten eine regelrechte Traumbildlogik: wenn das mit Badetuch und Bikini bekleidete Mädchen dabei ist, im Wald zu verschwinden und noch einen lockenden Blick über die Schulter in Richtung des angeschwärmten Mannes zurückwirft, könnte das die Nachstellung eines klassischen Gemäldes sein; und sobald der Arzt das besinnungslose Mädchen auf einer nebeligen Waldlichtung ins Gras gebettet hat, um es schnüffelnd wie ein Hund auf allen Vieren zu umkreisen, fühlen wir uns womöglich in eine Deleted Scene aus „Twin Peaks“ versetzt.

Daher ist „Paradies: Liebe“ mit 8 von 10 möglichen Diät-Schokoriegeln gut versorgt.