EINE NACHT DER ANARCHIE

Einmal pro Jahr ist in Amerika alles möglich: jeder darf eine Nacht lang nach Herzenslust tun, wonach ihm gerade ist, ohne von der Polizei dafür belangt zu werden. Nein, die Rede ist nicht von Halloween, sondern von einer – zumindest vorerst – fiktiven Aktion, die in naher Zukunft von der US-Regierung eingeführt wurde, um so der über Hand nehmenden Kriminalität zu steuern. Für 12 Stunden treten landesweit die Gesetze außer Kraft und vollkommene Straffreiheit für jedes denkbare Verbrechen ist garantiert.

Als rechtschaffener Normalbürger mit geringen Verbrecherambitionen sollte man in diesem Zeitraum lieber die Straßen meiden. So denkt auch James Sandin, der als Experte für Sicherheitssysteme aus der Aktion kräftigen finanziellen Profit gezogen hat. Ansonsten möchte er von der gefährlichen Außenwelt aber nichts wissen, sondern verbarrikadiert sich dank modernster Technik daheim mit seiner Frau und den beiden halbwüchsigen Kindern. Doch seine Vorsicht war umsonst, denn die Bilderbuchfamilie wird von einer der marodierenden Gruppen aufgespürt und belagert, weil Sandi Jr. einem bedrängten Farbigen Unterschlupf gewährt hat. Der Anführer dieser blutgierigen Yuppies ist ein Bubikopf, der so unschuldig wirkt, dass er sich direkt als Teilnehmer an einem von Michael Haneke veranstalteten „Funny Game“ qualifizieren würde.

Aber eigentlich liegt der Vergleich mit einem anderen Film noch näher, denn der Plot hört sich nach einer sozialkritischen Variante von „Panic Room“ an.

Die Sandins sehen sich plötzlich mit dem Tod bedroht und werden gezwungen, ziemlich drastische Mittel zur Selbstverteidigung anzuwenden. Die Hälfte der Laufzeit über wird der Film folglich zum Versteckspiel, bei dem schwerbewaffnete Personen mit Taschenlampen in den Händen durch ein dunkles Haus pirschen und brutale Scharmützel ausfechten.

Abgesehen davon klingt es reichlich unwahrscheinlich, dass ein halber Tag pro Jahr genügen sollte, um das aufgestaute Aggressionspotential der gesamten Bevölkerung zu entladen, sodass die restlichen 364 ½ Tage über keine Banküberfälle, Diebstähle, Einbrüche, Affektmorde oder Vergewaltigung mehr vorfallen. Im Film ist aber mit dieser Aktion ohnehin nicht der gewöhnliche Straßenkriminelle angesprochen, sondern eine ganz spezielle Zielgruppe: es stellt sich alles so dar, als wären die 12 Stunden eine Möglichkeit für gelangweilte Reiche, ihre Frustrationen abzureagieren und die Straßen vom „Abschaum“ zu säubern. Die Leidtragenden bei der blutigen Veranstaltung sind die Unterprivilegierten, Randgruppen und die Ärmsten der Armen. Sollte sich aber jemand von den Normalbürgern unbeliebt gemacht haben, können auch die lieben Nachbarn in dieser Nacht der Extreme auf einen Sprung vorbeikommen, um ein bisschen zu morden, was sie als geradezu patriotische Pflichterfüllung empfinden.

Regisseur James DeMonaco ist Spezialist für Belagerungszustände, immerhin stammte von ihm auch das Skript zum Remake des Carpenter-Thrillers „Assault on Precinct 13“ (in dem übrigens ebenfalls Ethan Hawke die Hauptrolle spielte). Diesmal wurde die Ausgangssituation mit dem Anspruch auf Gesellschaftskritik und einem leicht futuristischen Touch versehen. Hier wird das Bild eines Landes entworfen, in dem die Western-Mentalität wieder auflebt: jeder ist sein eigener Richter und verteidigt mit der Waffe sein Eigentum oder das Leben. Das ist zwar nicht immer stimmig oder wirklich überzeugend umgesetzt, doch es ergeben sich zumindest einige hochspannende Situationen und in den besten Momenten glauben wir tatsächlich, dass „The Purge“ eine grimmige Satire auf das amerikanische Rechtssystem sein könnte. Darum vergebe ich 7 von 10 möglichen Überlebenskits.