DIE MIT DEM WOLF SPRICHT

Wir hätten uns doch gleich in Kindertagen denken können, dass hinter dem verdächtig menschlichen Wolf, der es auf die Rote-Käppchen-Trägerin abgesehen hat, ein verwandelter Zweibeiner steckt. Allerdings haben die Brüder Grimm eine Chance vertan, das Werwolf-Motiv einzuführen, da ihr Märchen am helllichten Tag spielt. Diese Unterlassungssünde wird durch Catherine Hardwicke nun endlich wett gemacht, indem sie der alten Geschichte einen zwielichtigen Romantik-Touch verpasst, wie es sich für die Regisseurin des ersten „Twilight“-Teils wohl von selbst versteht.

Die Szenerie bildet ein mittelalterliches Museumsdorf am Rand eines großen Waldes, in dem seit 20 Jahren der böse Wolf bei Vollmond wütet und nur durch monatliche Tieropfer halbwegs beschwichtigt werden kann. Doch immer gibt sich das Biest nicht mit Ersatzblut zufrieden und als ein roter Mond aufgeht, bleibt letztlich auch die Familie der jungen Valerie ( Amanda Seyfried) nicht von einem tragischen Verlust verschont. Durch bestimmte Zeichen wird dem Mädchen, das zwischen zwei Männern steht, klar, wie gut sie die Person hinter der Bestie eigentlich kennen muss.

Welcher ihrer Freunde den Wolf nun wirklich in sich trägt, soll ein eigens zur Hilfe gerufener Kirchenmann (Gary Oldman) herausfinden. Zu den mitgebrachten Gerätschaften dieses Exzentrikers in Violett gehört z.B. ein überdimensionaler Elefant aus Metall, der sich bald als antikes Folterinstrument herausstellt, denn unter dem sadistischen Regime des fanatischen Werwolf-Jägers herrschen im Nu inquisitionsartige Zustände: das Dorf wandelt sich zur Festung, in der jeder jeden belauert, und die Wolfshatz kann auch gleich mit einer Hexenjagd gekoppelt werden.

Alle bekannten Märchen-Elemente bleiben erhalten, auch wenn sie eine andere Deutung erfahren. Manchmal gelingt das überraschend gut, etwa als die Großmutter ins Spiel kommt, aber dann wirken die Parallelen wieder an den Haaren herbeigezogen; gerade die Vorgabe, dass der Wolf mit eingenähten Steinen im Bauch ein nasses Grab finden muss, gibt zu einer drastischen und wenig glaubwürdigen Szene Anlass.

Amanda Seyfried wird von zwei jungen Männern (Shiloh Fernandez und Max Irons) flankiert, die so blutleer agieren, als wären sie direkte Verwandte der blassen Vampir-Sippe aus „Twilight“. Aber sie haben es auch nicht gerade leicht, weil ihnen – wie den meisten anderen Protagonisten - extrem platte Sätze in den Mund gelegt werden.

Zum Spannungsaufbau bedient sich die Regisseurin verschiedener Stilmittel, doch besondere Penetranz entwickelt sie durch wiederholte Anwendung eines bei Horrorfilmen beliebten Tricks. Sie lässt uns die Perspektive eines geheimen Beobachters einnehmen: wir sehen durch die Augen des Belauerers auf das begehrenswerte rote Mädchen und huschen von einer Deckung zur nächsten, bis endlich preisgegeben wird, wer sich hier angeschlichen hat (und eines ist sicher: der Wolf war’s in keinem der Fälle).

Bei der Umsetzung schreckt Hardwicke auch vor gefährlicher Nähe zum Kitsch nicht zurück. Besonders in ein Bild scheint sie regelrecht vernarrt zu sein: mehrfach bekommen wir zu sehen, wie das Mädchen an der Seite des Liebsten bergwärts durch den Schnee stapft und dabei die lange Schleppe des roten Capes hinter sich her schleift, obwohl wir uns doch gar nicht in „Schneeweißchen und Rosenrot“ befinden.

Das ist freilich nur ein rot-weißer Tüpfel in einer unausgegorenen Mischung aus sanftem Horror, mäßiger Mystery und schmalziger Romanze, die meinem Wolfsrachen höchsten 6 von 10 möglichen Aufheulern aus Filmfreude entlockt.