Filmkritiken

Wäre dieser Film ein Buch...

Wäre dieser Film ein Buch, man würde sagen, es erzählt das, was zwischen den Zeilen passiert. Zwischen den sonst wichtigen Dingen, dem ersten Kuss und dem letzten, dem ersten Schultag und dem letzten, zwischen Hochzeiten und Scheidungen, den Wochenenden mit dem Vater, dem Alltag mit der Mutter, dem Streit mit der Schwester. Richard Linklater komponiert in "Boyhood" jene scheinbar kleinen Momente zusammen, aus denen das große Leben besteht, das Undramatische im Dramatischen, das Beiläufige im Weltbewegenden.

Zwölf Jahre lang berichtet er aus dem Leben eines texanischen Buben und seiner Patchwork-Familie. Zwölf Jahre lang hat er mit denselben Schauspielern gedreht, jedes Jahr ein paar Drehtage mehr für sein Opus magnum dazuerfunden.

Ein Zeitraum, fast zu groß für die Logistik eines Films. "Manche hatten Krebs, andere begruben ihre Eltern", erzählte Patricia Arquette, die betörend uneitel die Mutter spielt. Sie selbst bekam ein Kind, heiratete und ließ sich scheiden. Und auch Linklater wurden innerhalb dieser Zeit zwei Mal Vater: Seine Tochter Loreley (im Film als Schwester zu sehen) wollte gar mittendrin aussteigen.

Im Mittelpunkt steht ihr Bruder Mason: 164 Minuten lang dürfen wir zuschauen, wie der anfangs sechsjährige Bub aufwächst, ein Teenager wird und zum Mann. Wie seine Stimme bricht und sein Herz gebrochen wird. Wie aus dem Versandkatalog für Unterwäsche echte Frauen werden, in echter Unterwäsche. Und aus dem Leben mit Schwester und Mutter eines mit Stiefvater, einem Uniprofessor, Alkoholiker und gewalttätig.

Die Mutter verlässt ihn (und nicht nur ihn), und wir verlassen die Familie erst wieder, wenn Mason 18 Jahre alt sein wird, wenn er von zu Hause ausziehen wird, um aufs College zu gehen.

"Ich dachte, da würde noch mehr sein," wird in diesem Moment die Mutter sagen und mehr erstaunt klingen als traurig.

Kinder kriegen, heiraten, sich scheiden lassen, wieder heiraten, sich wieder scheiden lassen, Häuser wechseln, Schule wechseln, späte Ausbildung, später Job als Psychologin – und schon verlassen die Kinder wieder das Haus. Bei Linklater ist das wie alles andere auch kein großes Drama, nur ein bisschen zum Weinen vielleicht."Boyhood" ist, sagt Linklater, ein Film über die Zeit und wie sie vergeht. Über die Jugendlichen und Eltern und die Blessuren, die entstehen, wenn beide erwachsen werden. Die Buben schauen Zeichentrickfilme, später sind es Videogames. Der erste Gameboy, das erste Handy taucht auf. Am Anfang gibt es Irakkrieg im Fernsehen – und eines Tages stellen Mason und seine Schwester "Wählt Obama"-Schilder auf. Ja, "Boyhood" ist ein Film über die Zeit. Über Mütter, die alles alleine durchziehen, im Alter von 40 ein neues Leben anfangen und dabei doch vielleicht alleine bleiben werden. Über Väter, die mit 40 noch ein neues Leben und zwar ganz von vorne beginnen können: Mit neuer Frau und neuem Kind und neuer bürgerlicher Haltung.

"Wir improvisieren doch alle", meint der Vater. Und trifft damit auch den Film auf den Punkt. Aus all dem Improvisieren schält sich das Leben heraus. Man versagt, macht es wieder gut. Man zieht um, gewöhnt sich wieder ein. Und zum 15. Geburtstag bekommt man eine Bibel, eine Schrotflinte und einen Anzug geschenkt.

Das Leben in diesem Film ist wie das Leben selbst: Eine Reihe von Fehlern und Fehlentscheidungen, von Zufällen, von Glücksfällen.

Nie verliert Linklater dabei den Optimismus, auch über dem finstersten Abgrund scheint der Film noch irgendwie zu schweben.

Das kann man ihm vielleicht auch vorwerfen: Dass er nie ganz bis zum bitteren Ende geht, sondern ein Feelgood-Movie bleibt, ein hervorragend gemachtes, eines, das tröstet. Doch genau darin liegt auch seine humanistische Botschaft: Dieses Weitermachen und Durchwurschteln, dieses Irgendwie-Durchhalten im Leben ist die eigentliche Leistung und macht uns alle zu Helden.

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