Filmkritiken

SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN SICH

Xavier Dolan hat seiner Mutter nie verziehen, dass sie ihn ins Internat steckte. Gegen seinen Willen. In seinem autobiografischen Regiedebüt, dem Teenage-Wutfilm "Ich habe meine Mutter getötet", arbeitete sich der junge Frankokanadier an seinem Mutter-Verhältnis ab. Er selbst spielte die Hauptrolle des 16-jährigen, schwulen Rebellen, den mit seiner kleinbürgerlichen Mama eine exzessive Hassliebe verbindet.

"Ich habe meine Mutter getötet" schlug 2009 in Cannes ein und avancierte sofort zum Arthouse-Hit.

Fünf Filme später geht es wieder um "Mommy". Doch diesmal ist der mittlerweile 25-jährige Dolan gnädiger geworden und versetzt sich mehr in die Position der Mutter als in die des Sohnes.

Wieder spielt die großartige Anne Dorval die leidgeprüfte, verwitwete Mommy. Während sie in Dolans Debütfilm die Mutter Spießerin verkörperte, trägt sie als Diane Jugend-Outfit. Wie eine Teenagerin in der Lugner City wirft sich die nicht mehr ganz junge Trash-Mom Kaugummi kauend in knallenge Jeans und weiße Felljäckchen. Und sieht dabei toll aus.

Ihr Sohn Steve leidet an der ADHS-Erkrankung. Die Beziehung zu ihm existiert nur in Extremzuständen: Entweder Mutter und Sohn sind einander über-innig verbunden oder gehen sich an die Gurgel; entweder sie küssen oder sie schlagen sich.

Der 17-jährige Antoine Olivier Pilon spielt den Teenage-Tyrann umwerfend hysterisch und springt wie ein Flummi durchs Zimmer. Zwischen Tobsuchtsanfällen und Wutausbrüchen pendelt er sich als liebevoller, aufmerksamer Sohn ein.

Überaus heilsam erweist sich in dieser aufgeladenen Situation die Freundschaft seiner Mutter zur stotternden Nachbarin. Die junge Frau leidet selbst an einem Trauma und erscheint Mutter und Sohn wie ein rettender Engel. Zu dritt entwerfen die beiden Frauen und der Junge eine kleine, utopische Gegenwelt zu den muffigen Beklemmungen der kanadischen Provinz.

"Mommy" prustet los in alle Richtungen, witzig, dramatisch, intensiv, vulgär, zum Lachen, zum Heulen. Dolan verwendet für sein ödipales Beziehungschaos das ungewöhnliche, in die Höhe gezogene 3:4-Filmformat. Seine engen Bilder schaffen Intimität zwischen den Figuren, markieren aber auch begrenzten Handlungsspielraum. Und Einsamkeit. Großer Preis der Jury in Cannes.

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