Filmkritiken

SCHWARZ-WEISSER BERLINER FLANEUR

Dies ist zwar ein Erstlingswerk, aber Regisseur Jan Ole Gerster hätte sich zweifellos auch Material für einen Farbfilm leisten können. Also verdankt sich der Farbverzicht selbstverständlich einem ästhetischen Kalkül und kommt einer Verbeugung vor einigen großen Vorbildern gleich. Da noch dazu fast ausschließlich Jazztöne als Soundtrack erklingen, rechnen wir bestimmt damit, dass gleich ein etwas jüngerer Woody Allen aus der Zeit von „Annie Hall“ und „Manhattan“ die Szene betritt. Doch auch Truffaut und andere Regisseure der Nouvelle Vague sind vermutlich alle im Hinter- oder sogar Vorderkopf des Regisseurs präsent gewesen.

„Oh Boy“ zeigt 1 Tag und 1 Nacht im Leben eines doch schon etwas in die Jahre gekommenen Müßiggängers, der als echter Berliner Flaneur mehr oder weniger ziellos durch die Stadt streift. Niko, so heißt der nette aber ratlose End-Zwanziger, scheint durch seine Passivität die Menschen seiner Umgebung regelrecht dazu herauszufordern, ihm ihre Herzen auszuschütten und so treffen wir einige lustige oder lästige, dann wieder eher tragische Typen – und der Wechsel zwischen den Befindlichkeiten kann sich sehr rasch vollziehen. Wenn sich etwa – um nur eines von vielen möglichen Beispielen zu nennen - ein zudringlicher Nachbar unter einem Vorwand Zutritt in Nikos Wohnung verschafft und vor seinen Augen herumzustöbern beginnt, reagieren wir als Zuseher zuerst vermutlich amüsiert, aber wenig später empfinden wir plötzlich tiefes Mitleid mit dem Mann, weil er uns Einblicke in sein persönliches Elend gewährt.

Auf solche unaufdringlichen Menschenporträts, die schlaglichtartig Schicksale zeigen, versteht sich Jan Ole Gerster ganz meisterhaft; und es funktioniert umso besser, da selbst kleinste Nebenrollen mit grandiosen Schauspielern besetzt wurden. Zugleich ist es ihm auch möglich, städtisches Stillleben kunstvoll einzufangen: Wir erleben Berlin als pulsierende Metropole oder ausgestorbene Geisterstadt, je nach Tageszeitung und Nikos Stimmung. Hier macht sich die Farbwahl wirklich bezahlt, denn selbst Menschen, die mit der Stadt bestens vertraut sind, werden sie in Schwarz-Weiß mit neuen Augen sehen.

Berlin ist jedoch kein zeitloser Ort und so schlägt v.a. die braune Vergangenheit mehrmals durch: sei es bei Dreharbeiten eines peinlichen Nazi-Dramas oder anlässlich der Begegnung mit einem alten betrunkenen Mann in den späten Nachtstunden. Spätestens dann hat die Komödie eine wesentlich ernstere und nachdenklich-melancholische Tonart angenommen, die höchstens durch eine heiße Tasse Kaffee wieder gemildert werden könnte. Aber das ist nicht so sicher, denn Nikos vergebliche Versuche, zu eben diesem Getränk zu kommen, ziehen sich als Running Gag durch den Film. Selbst militante Teetrinker können da lebhaft mit ihm mitfühlen. „Oh Boy“ hat sich jedenfalls 9 von 10 möglichen Kleinen Schwarzen mit Sahnehäubchen verdient.

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