Filmkritiken

"Murer - Anatomie eines Prozesses": Eine österreichische Urteilsfindung

„Na sowas, der allseits beliebte Steirer Franz Murer war womöglich in den frühen 40er Jahren unter dem Spitznamen ‚Der Schlächter von Vilnius‘ für den Tod von Abertausenden verantwortlich, als er das dortige Ghetto geleitet hat. Aber geh, so schlimm wird’s schon nicht gewesen sein; und selbst wenn – das ist jetzt schon wieder 20 Jahre her und wir wollen diese lästige Vergangenheit nicht immer wieder aufrühren.“

Justizskandal

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Solche und ähnliche Überlegungen haben wohl ein paar mächtige Personen in der österreichischen Regierung dazu bewogen, dass 1963 zu einem unrühmlichen Jahr in der heimischen Justizgeschichte geworden ist. Denn obwohl der Kriegsverbrecher Murer wegen erdrückender Beweislast in Graz vor Gericht gestellt wurde, hat sich der Prozess zu einer beschämenden Farce entwickelt. Die Verantwortlichen hatten nicht das geringste Interesse daran, den renommierten Lokalpolitiker und reichen Großbauern hinter Gittern zu sehen, und der Angeklagte erhielt auch handfeste Hilfe von alten Nazifreunden, die selber schon vor Gericht gestanden waren und meist freigesprochen wurden.

Ein sicherer Freispruch für den Kriegsverbrecher?

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Christian Frosch („Von jetzt an kein zurück“) rekonstruiert diesen Skandal nun anhand originaler Gerichtsprotokolle mit geradezu dokumentarischer Strenge (im Bedarfsfall legt er aber auch einen beunruhigenden Klangteppich aus oder lässt eine Rachefantasie Gestalt annehmen). Für dieses Projekt wurde eine unglaubliche Zahl von perfekt ausgesuchten Darstellern aufgeboten – die Reihe der Zeugen scheint gar kein Ende nehmen zu wollen. Ihre - teils erstaunlich beherrscht, teils unter Tränen und Verzweiflungsausbrüchen vorgebrachten - Aussagen ergeben zusammengenommen das Bild eines Sadisten, der Freude am Töten hatte und viele der Gefangenen eigenhändig erschoss. Wie sollte es Murer (Karl Fischer) da noch gelingen, ungeschoren davonzukommen? Abwarten – in Österreich ist alles möglich, und die politischen Seilschaften können viel durchsetzen. Immerhin war sogar der Richter ein alter Nazi und hatte 1945 zunächst Berufsverbot erhalten. Von einem einzigen Geschworenen könnte es dann abhängen, ob sich dennoch ein Schuldspruch ausgeht, doch der Mann ist selber labil und schwer unter Druck geraten.

Ein überraschter Staatsanwalt

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Während der Staatsanwalt (Roland Jaeger) einen überforderten und verunsicherten Eindruck hinterlässt (sein Hauptinteresse scheint eher darin zu bestehen, seine Frau vom Besuch der Verhandlung fernzuhalten), tritt Murers Anwalt (Alexander E. Fennon, den man hier mit Alfred Dorfer verwechseln könnte) umso selbstbewusster auf, und spart auch ansonsten nicht mit guten Ratschlägen: so soll sein Mandant seinen ‚schönen Anzug‘ weglassen und auf der Anklagebank in einem abgeschabten Steireranzug sitzen, weil das Assoziationen an Arbeit und Heimat weckt. Außerdem tut er sein Bestes, die Zeugen unglaubwürdig erscheinen zu lassen und besitzt die Unverfrorenheit, im Schlussplädoyer eine Art jüdische Weltverschwörung herbeizuzitieren, da Simon Wiesenthal (hier durch Karl Markovics verkörpert) nichts unversucht gelassen hatte, damit dieser Prozess zustande kam. Doch obwohl der Verteidiger alles erreicht, was er sich vorgenommen hat, steht er zuletzt sehr kleinlaut da, weil der Regisseur einen Knalleffekt zu bieten hat.

Abseits des Gerichtssaales

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Beinahe noch bedrückender wird es, sobald Frosch den dokumentarisch verbürgten Wortlaut bzw. den Gerichtssaal hinter sich lässt und uns mit fiktiven Gesprächen zwischen den Beteiligten konfrontiert. Der Regisseur interessiert sich nämlich in erster Linie für die Reaktionen der verschiedenen Personengruppen. Einerseits offenbart sich die ganze Verdrängungskunst der österreichischen Seele: den Geschworenen schlägt das soeben Gehörte nicht auf den Magen und ihre größte Sorge besteht darin, was es in der Gerichtskantine wohl zum Mittagessen geben wird. Eine andere Stimmung herrscht bei den Zeugen: dort werden nach wie vor Spätfolgen durch damals erlittenen Traumata sichtbar oder die Menschen geraten aneinander, weil einer dem andern das Überleben durch Anbiederung an die Nazis vorwirft. Sogar die harmlose Bestellung von Mineralwasser kann da einen Gänsehauteffekt erzeugen: „Auch in ihrem Mineralwasser können die Deutschen nicht auf Gas verzichten“, meint einer der Männer (wobei er sich auf das englische Wort für Kohlensäure bezieht).

Ein verstaubter Akt

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Ob der Kontakt einiger Geschworener zu rechten Kreisen authentisch ist, und wie weit die Beeinflussung bei der Urteilsfindung von höchsten Kreisen gelenkt wurde, lässt sich heute wohl nicht mehr mit absoluter Gewissheit eruieren. Kein Zweifel bleibt jedoch daran, dass die Schaltstellen der Macht hier gewaltig missbraucht wurden. Zu Beginn holt jemand einen verstaubten Akt aus dem Archiv, der die Aufschrift ‚Franz Murer‘ trägt. Diese Geschichte hat hingegen absolut keinen Staub angesetzt und führt uns mit erschreckender Deutlichkeit vor Augen, wie Österreich mit seiner braunen Vergangenheit umgeht: hier wird das Bagatellisieren, Lügen und Wegschauen mit höchster Virtuosität gehandhabt.

9 von 10 ganz unschuldigen Punkten

franco schedl