Filmkritiken

"Jackie": Nachrichten aus Camelot

22. 11. 1963 – in Dallas fallen Schüsse. Jenes tragische Ereignis, das zu den prägendsten und traumatischsten Momenten der amerikanischen Geschichte zählt, wurde bisher noch nie aus der Perspektive von Kennedys Frau betrachtet. Regisseur Pablo Larraín (dessen Film über den chilenischen Dichter Pablo Neruda fast zeitgleich in unseren Kinos anlaufen wird) holt dieses Versäumnis nun in einem klugen und vielschichtigen Werk nach. Dadurch, dass er sich auf einen kurzen, klar umgrenzten Zeitraum aus Jacqueline Kennedys Leben beschränkt, ist „Jackie“ auch kein Biopic im herkömmlichen Sinn geworden, sondern eher als Requiem zu verstehen; ein Eindruck, den die tragenden und tragischen Töne von Mika Levins Score noch unterstreichen.

Die Witwe lädt zum Interview

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Eine Woche nach Präsident Kennedys Ermordung empfängt dessen Witwe in ihrem Landhaus einen Reporter zu einem Exklusivinterview. Die kettenrauchende Jackie wirkt erstaunlich gefasst und macht zur Eröffnung dieses langen Gesprächs unmissverständlich klar, dass sie hier alles unter Kontrolle behalten und den genauen Wortlaut der späteren Veröffentlichung absegnen wird. Es ist klar, worum es ihr geht: sie will das Bild von sich und ihrem Mann für die Nachwelt festschreiben.

Doch der Eindruck von Überlegenheit täuscht, denn sehr schnell wird ersichtlich, welches Gefühlschaos in dieser Frau herrschen muss: eine Mischung aus Trauer, Angst, Verletzlichkeit, aber zugleich Verbitterung, Härte und Wut. Erinnerungen stürmen auf sie ein und daher sehen auch wir uns keinem wohlstrukturierten Ganzen gegenüber, sondern werden einer Bilderflut mit vielen kurzen Szenen ausgesetzt, hauptsächlich über Kennedys letzte Tage oder die Stunden nach dem Attentat.

Legendenbildung

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Schließlich wechselt Jackie im Verlauf des langen Interviews in die Region der Mythen und Legenden: das Leben an JFKs Seite lässt sich für sie am treffendsten im Namen von König Arthus legendenumwobener Residenz ‚ Camelot‘ zusammenfassen - als Zeit der rauschenden Feste, in der die junge Präsidentengattin das Weiße Haus mit kulturellem Leben erfüllte und Dichter und Künstler gern gesehene Gäste waren. Die Melodie dazu gibt das gleichnamige Musical von Loewe/Lerner vor, das 1960 uraufgeführt wurde und zu Kennedys Lieblingswerken zählte.

Eine unnahbare Hauptfigur

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Regisseur Pablo Larraín behauptet nicht, Antworten parat zu haben und will seine Hauptfigur, die als Stilikone gehandelt wurde und zu den meistfotografierten Frauen des 20. Jahrhunderts zählte, auch nicht durchschaubar machen. Bei aller Verletzlichkeit bleibt Jackie immer unnahbar: einerseits wirkt sie als schüchternes Mädchen mit Minderwertigkeitskomplexen, das darunter leidet, von anderen als dumm und ungebildet eingestuft zu werden, oder Angst hat, nach Kennedys Tod wie einst Lincolns Witwe zu verarmen. Andererseits organisiert sie mit unerbittlicher Härte den genauen Ablauf des prunkvollen Trauerzugs und lässt sich auch nicht durch weitere Attentats-Befürchtungen davon abbringen, zu Fuß den Sarg zu begleiten. Natalie Portmans unglaublich feinfühliges und differenziertes Spiel fängt all diese Facetten ein – wofür sie selber sich hoffentlich ihren zweiten Oscar einfängt.

10 von 10 präsidialen Witwenschleiern

franco schedl

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