Filmkritiken

"High-Rise": Anarchie im Hochhaus

Während vor einigen Jahren Joon-ho Bong mit „Snowpiercer“ die Menschheit horizontal in einen dahinrasenden Zug verfrachtet hat, ist sie hier vertikal auf viele Ebenen verteilt - denn schnell wird klar: dieses Haus dient als Sinnbild für den Großteil der (britischen) Gesellschaft.

UPPER- GEGEN LOWER-CLASS

In dem unschönen Gebäude, wo Grau- und Brauntöne dominieren, herrscht eine streng soziale Hierarchie: wer weiter oben lebt, ist zugleich höhergestellt (Upper-Class eben) und blickt verachtungsvoll auf den ‚Pöbel‘ in den unteren Etagen hinab. Und wer residiert an allerhöchster Stelle? Ganz klar: Der Schöpfer selbst! Gottgleich thront ein immer weiß gekleideter Jeremy Irons als Mr. Royal im Penthouse der 40. Etage. Er ist der Architekt des Ganzen und lebt, an seinen Bauplänen herumbessernd, inmitten der Betonwüste in einem wahren Garten Eden, der einem verwunschenen Schlosspark gleicht und sogar Tiere wie Ziege und Pferd beherbergt. Als Sprachrohr der Unterklasse tritt hingegen ein gewaltbereiter Fernsehjournalist mit dem beziehungsvollen Namen Wilder in Erscheinung; er entwickelt sich immer mehr zum Gegenspieler und zur größten Bedrohung des Bauherren.

Dann wäre da noch der Physiologe Dr. Robert Laing (Tom Hiddleston, den wir als Loki aus den „Thor“-Filmen kennen): als neuer Mieter findet er sich unverhofft im Kräftespiel des brüchigen Sozialgefüges. Zu einer sympathischen Hauptfigur taugt aber auch dieser Opportunist nicht. Sein Name erinnert ironischerweise an den Begründer der Antipsychiatrie R.D. Laing, der seinen Patienten die Einweisung in Anstalten ersparen wollte und betreute Wohngemeinschaften ins Leben rief.

DAS CHAOS BRICHT AUS

Das ehrgeiziges Hochhausprojekt weist Mängel auf, wovon z.B. regelmäßige Stromausfälle zeugen. Zwar lautet Mr. Royals Lieblingsspruch: „Das muss sich alles noch einpendeln“, aber in Wirklichkeit ist dieser Schöpfer ein ziemlich hilfloser Gott und alles schon längst außer Kontrolle geraten, denn die Zeichen stehen auf Revolution und Klassenkampf. Müllsäcke stapeln sich überall, die Vorräte gehen zu Ende, im hauseigenen Supermarkt brechen Massenschlägereien aus, Vergewaltigung und Terror sind an der Tagesordnung, offene Feuer lodern in den Gängen, Orgien werden gefeiert, Frauen gegen Lebensmittel getauscht und es ist nur eine Frage der Zeit, bis es die ersten Toten gibt - aber niemand denkt daran, die Polizei zu holen, weil hier ganz eigene Gesetze herrschen.

Der Film spielt im Gründungsjahr der „ Sex Pistols“ und führt uns drastisch vor Augen, was „Anarchy in the UK“ bedeutet. Außerdem steht 1975 für den Beginn der Thatcher-Ära; folgerichtig behält die Eisernen Lady auch das letzte Wort. J.G. Ballard hat seinen gleichnamigen Roman tatsächlich 1975 geschrieben – die kommenden Entwicklungen waren also nicht konkret vorhersehbar, aber wie es sich für einen guten Sci-Fi-Autor gehört, hat er einen geradezu prophetischen Blick bewiesen.

Regisseur Ben Wheatley konnte sich mit „Kill List“, „A Field in England“ oder „Sightseers“ schon mehrfach als Spezialist für gleichermaßen verstörende und intelligente Geschichten etablieren. Mit „High-Rise“ ist er jedoch endgültig auf die Höhe seiner Kunst gelang und bietet eine kongeniale Romanverfilmung, deren Bilder uns noch lange verfolgen werden und die sich in puncto Radikalität locker mit „A Clockwork Orange“ messen kann.

9 von 10 gegrillten Hunden.

franco schedl

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