Filmkritiken

GROSSE ZEREISSPROBE

Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen, heißt es einmal bei William Faulkner (und Christa Wolf). Diese schmerzliche Erfahrung bestimmt wie die intensive Spannung eines Thrillers das Leben einer zerbrechenden Familie. Eingeklemmt zwischen Ex-Gatten und zukünftigem Ehemann beginnt die Gegenwart einer jungen Frau zu erodieren. Der Boden verschiebt sich, die Perspektiven wechseln. Kein Baustein der Gefühle bleibt auf dem anderen – und wie immer in solchen Situationen, verschärft das Unglück der Kinder die Lage ungemein.

Mit seinem hervorragend komplexen Scheidungsdrama „Nader und Simin – Eine Trennung“ betrat der iranische Regisseur Asghar Farhadi souverän die Bühne des großen Weltkinos. Ein Auslandsoscar und ein Goldener Bär sicherten ihm globale Anerkennung.

Mit dem ebenfalls exzellenten Drama „Le Passé “ verließ Farhadi den religiös-kulturellen Zusammenhang des Iran; seine neue Scheidungsgeschichte pflanzte er – wohl auch dank französischer Fördergelder – in den Kontext einer schäbigen Pariser Vorstadt.

Ahmad hat vor vier Jahren seine französische Frau Marie und zwei Kinder verlassen, um in seine Heimat Teheran zurückzukehren. Nun reist er nach Paris, um einen offiziellen Scheidungstermin wahrzunehmen. Er zieht vorübergehend wieder bei Marie ein und landet mitten in ihrem verzweifelten Versuch, eine neue Patchwork-Familie zu gründen.

Zuerst begegnen einander alle – Ex-Mann, Ex-Frau, der zukünftige Mann und drei Kinder – mit freundschaftlicher Höflichkeit. Doch binnen Kurzem bekommen die internen Verwicklungen eine beängstigende Beschleunigung, deren Zentrifugalkraft alle auseinanderzureißen droht. Zwischen Ahmad und Marie klaffen immer noch ungeheilte Wunden; zwischen Marie und ihrem neuen Freund steht schuldhaft dessen Ehefrau, die nach einem Selbstmordversuch ins Koma fiel. Und dazwischen revoltieren die Kinder.

Farhadis große Stärke liegt– wie immer – in der präzisen Beobachtung menschlichen Verhaltens, ohne moralisch zu verurteilen. Er bevorzugt niemanden und steht allen Figuren gleichermaßen nahe. Selbst der charismatische Iraner Ali Mosaffa als Ahmad, der souverän die Umgebung in seinen Bann schlägt, wird durch genaue Schattierungen seines Charakters abgerundet. Bérénice Bejo – bekannt aus „The Artist“ – durchleidet als Marie eine bewundernswert große Gefühlspalette. Und der immer spannende Tahir Rahim („Ein Prophet“) ergänzt das prekäre Liebesdreieck mit seiner komplexen Präsenz.

Farhadi beschränkt sich nicht auf ein nuanciertes Melodram in einem genau beobachteten Milieu. Die Schuldfrage des Selbstmordes unterfüttert mit Krimispannung das Emotionsgefüge. Nach und nach fördert er Details zutage, die wie bei einem Kaleidoskop das Bild ändern. Und am Ende ist die Vergangenheit immer noch nicht tot. Aber sie ist doch ein Stück mehr vergangen.

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