Filmkritiken

"Wir": Aufstand der Doppelgänger

Ein kleines schwarzes Mädchen steht nachts allein am Strand, während im Hintergrund die Blitze eines aufziehenden Gewitters zucken. Bevor der Regen losbricht, betritt es ein Spiegelkabinett, doch auch dort ist es nicht geheuer – plötzlich fällt der Strom aus und was dann geschieht, wird in seiner vollen Tragweite für uns erst in der letzten Filmminute deutlich. So unheimlich stimmungsvoll beginnt jedenfalls Jordan Peeles zweiter mit Spannung erwartetet Spielfilm, in dem er nach „Get Out“ erneut intelligenten Horror entfesselt.  Dabei helfen ihm die beiden „Black Panther“-Stars Lupita Nyong'o und Winston Duke.

 

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Haneke-verdächtiger Beginn

Im Gegensatz zum Oscar-nominierten Erstlingswerk kommt „Wir“ ohne satirische Zwischentöne aus und es wird wesentlich blutiger. In der ersten halben Stunde glaubt man zunächst, in einer schwarzen Version von Hanekes „Funny Games“ gelandet zu sein. Da reiht sich nämlich eine Übereinstimmung an die nächste: wir haben die Familie in einem abgelegenen Haus am See, dann tauchen unheimliche Eindringlinge auf, die alle gleich gekleidet sind, der Vater wird sofort durch eine Schlagwaffe am Knie verletzt – auffälliger geht‘s wohl nicht mehr. Aber sehr bald verabschieden wir uns wieder von Haneke und der Hauptteil der Handlung besteht aus einer wilden Flucht vor den brutalen - mit goldenen Scheren bewaffneten - Fremden, die ihren Opfern eigentlich wie aus dem Gesicht geschnitten sind. Jeder der vier Familienmitglieder bekommt es mit seinem gefährlichen Ebenbild zu tun und muss um sein/ihr Leben fürchten. Peele verwickelt seine Protagonisten in einen Kampf, bei dem die Überlebensinstinkte geweckt und auch Kinder zu Mördern werden.  Die Wirkung des Films wird durch diesen langen Mittelteil allerdings etwas beeinträchtigt, weil er ziemlich wiederholungsanfällig ist: die Überrumpelten geraten in die Gewalt ihrer Peiniger, flüchten, setzten sich zur Wehr, kommen erneut in bedrohliche Situationen und alles fängt von vorne an.

 

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Reichlich Sozialkritik

Nachdem viel Blut geflossen ist, kommt dann im letzten Filmdrittel – wie sich das bei diesem Regisseur und Drehbuchautor wohl von selbst versteht –  reichlich Sozialkritik hinzu. Auch seine bewährte Symbolik verwendet Peele wieder: war es in „Get Out“ der silberne Löffel, den laut Redewendung die Reichen bei ihrer Geburt im Mund haben, finden nun goldene Scheren und ebensolche Handschellen ihre Verwendung (und auch dieses wertvolle Material stellt natürlich ein Statussymbol dar). Übrigens ist nicht nur die eine Familie vom Terror durch Doppelgänger betroffen, sondern das Phänomen tritt in wesentlich größeren Dimensionen auf. Außerdem werden wir verwundert feststellen, dass nur eine einzige Person unter den Doppelgängern der menschlichen Sprache mächtig ist (obzwar auch sie bloß ein heiseres Krächzen zustande bringt), während alle anderen undefinierbare Tierlaute ausstoßen. Wer die geheimnisvoll-bedrohlichen Angreifer sind und was sie mit ihren tödlichen Scherenattacken bezwecken, wird in einer überraschenden Wendung verdeutlicht, die uns wortwörtlich in den Untergrund führt.

 

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„Wir“ ist somit eine Mischung aus „Funny Games“, Zombieapokalypse, Sklavenaufstand und Gefangenenrevolte; nicht umsonst muss man bei der roten Kleidung dieser Wesen (soll man sagen "Menschen wie wir?") wohl sofort an die Inhaftierten von Guantanamo denken. Die Sozialkritik hat somit nichts an Schärfte verloren, der Horror ist Peele aber nun deutlich konventioneller und etwas ermüdend geraten, weshalb eine zweite Oscar-Chance diesmal wohl kaum besteht.

4 von 5 blutbefleckten Scheren