Filmkritiken

"The Irishman": Rückblick eines alten Killers

Ein neues Mafiaepos von Martin Scorsese muss es einfach ins Kino schaffen, auch wenn das Werk speziell für Netflix produziert wurde, weil die großen Studios unbegreiflicherweise abgewunken haben. Immerhin spielen Robert De Niro und Al Pacino die Hauptrollen und durchlaufen noch dazu verschiedene Lebensalter, weil wir sie in Rückblenden oft digital verjüngt erleben. Ähnlich wie „Goodfellas“ basiert auch Scorseses bisher längster Film (210 Minuten!) auf wahren Begebenheiten aus der Welt des organisierten Verbrechens.

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Das Buch zum Film

Frank „The Irishman“ Sheeran war, wie sein Spitzname verrät, kein Italiener, konnte aber bei der Mafia dennoch Karriere machen – nämlich als Auftragskiller. Der 1920 Geborene soll ungefähr 30 Personen auf dem Gewissen haben – darunter Gewerkschaftsboss Jimmy Hoffa – und begann im hohen Alter einem ehemaligen Hilfssheriff seine Lebensgeschichte zu erzählen. Daraus wurde ein Buch, das 2004, ein Jahr nach Sheerans Tod, erschien und als Vorlage für diesen Film gedient hat. Als alter gebrechlicher Mann sitzt Sheeran (De Niro) zu Beginn im Aufenthaltsraum eines Krankenhauses in einem Rollstuhl und beginnt, den Blick direkt in die Kamera gerichtet, mit dem Bericht seiner Lebenserinnerungen; wir sind seine Zeugen und Zuhörer.

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Ein Befehlsempfänger

Im Zweiten Weltkrieg war er in Italien stationiert, wo er nicht nur perfekt Italienisch lernte, sondern bereits damals im Auftrag seiner Vorgesetzten Tötungsbefehle ausgeführt hat: Deutsche Kriegsgefangene mussten ihre eigenen Gräber schaufeln, bevor sie dann von ihm erschossen wurden. Auch im späteren Leben wird er Befehlsempfänger bleiben, als er im Auftrag der Mafia Menschen einschüchtert, Autos oder Gebäude in die Luft sprengt und Morde begeht. Er wird bereits in jungen Jahren vom einflussreichen Mafioso Russell Bufalion (Joe Pesci) väterlich gefördert, genießt dessen Schutz und steigt als Mann fürs Grobe immer höher in der Organisation auf. Als er in dem mächtigen Gewerkschaftsboss Hoffa (Pacino) einen brüderlichen Freund findet, gerät er schließlich in eine Zwickmühle und muss eine schwere Entscheidung treffen. Dieser Entwicklung ist die zweite Filmhälfte gewidmet.

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Große Politik und Mafia-Alltag

Auch große Politik spielt hier eine Rolle: Es wird deutlich, dass John F. Kennedys Wahl durch die Mafia unterstützt wurde, und als der Präsident gewisse Bedingungen nicht erfüllte - etwa für Castros Sturz zu sorgen - wurde er auf Betreiben derselben Leute liquidiert. Hoffa hingegen investierte als ein Intimfeind der Kennedys Unsummen in Nixon. Scorseses Film verdeutlicht zugleich die Strukturen einer Welt des Verbrechens und wir erleben, welche geradezu absurden Rituale den Mafia-Alltag beherrschen: etwa wenn der Irishman zum Zwischenträger von Botschaften wird und wie beim Stille-Post-Spiel die verfeindeten Parteien über aktuelle Informationen auf dem Laufenden hält. Außerdem versorgt er uns öfter mit nützlichen Tipps, wie man sich auf die Ausführung eines Auftragsmordes vorbereiten sollte und worauf man bei der Durchführung zu achten hat.

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Todesarten

Sobald Figuren der ehrenwerten Gesellschaft zum ersten Mal in Erscheinung treten, bekommen wir meist ihre Namen und interessante Detail über ihr späteres Ableben eingeblendet: so kann man zum Beispiel lesen "Starb mit acht Kugeln im Kopf in einer Garage 1979" oder "Wurde durch eine Splitterbombe unter seiner Veranda 1980 getötet" - und sollte es einmal heißen "Starb aus natürlichen Ursachen mit 80 " ist man direkt verwundert und ein bisschen enttäuscht über ein derart banales Ende. Aber schließlich ist es ein ganz selbstverständlicher Lauf der Dinge: die überlebenden Mafiagrößen und ihre Handlanger werden alt, gebrechlich und krank und man kriegt sie schließlich doch noch dran; meist für Bagatelldelikte wandern sie - oft für den Rest des Lebens - hinter Gitter. Auch Sheeran muss 18 Jahre absitzen, während denen seine Beine immer mehr den Dienst versagen.

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Überleben

Es wird deutlich, welchen Preis so ein Leben fordert, wie man mit Schuld umgeht, was Loyalität, Freundschaft und Verrat bedeuten und welche Entfremdung in der eigenen Familie entstehen kann: So hat etwa eine von Franks Töchtern die italienischen Freunde ihres Vaters immer mit Misstrauen betrachtet und auch der eigene Vater war ihr unheimlich, seit sie als Kind mitansehen musste, wie er einen Geschäftsmann zusammengeschlagen hat. Nur Hoffa ist ihr sofort sympathisch und sie findet in ihm eine Art Vaterersatz. Als die Nachricht von seinem Verschwinden eintrifft, durchschaut sie die Zusammenhänge sofort. Die folgenden drei Jahrzehnte wird sie nie wieder ein Wort mit dem Vater wechseln. Zuletzt erleben wir noch mit, wie sich der alte Mann als letzter Überlebender der früheren Mafia-Clique auf den Tod vorbereitet: er kauft seinen eigenen Sarg, betet gemeinsam mit dem Krankenhauspriester (obwohl er auf dessen Fragen hin zugibt, keine Schuldgefühle zu empfinden), versucht erfolglos Kontakt zur entfremdeten Tochter herzustellen, und wird wieder zu einem Kind, dass nachts keine geschlossene Zimmertür erträgt und bittet, sie einen Spalt weit offen zu lassen; schließlich könnten ihn ja die Geister der Vergangenheit heimsuchen.

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Perfektion und Spielfreude

De Niro durchläuft in diesem langen Film viele Altersstufen und daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass Scorsese auf eine Technik zurückgegriffen hat, die bereits von David Fincher in dessen "The Curious Case of Benjamin Button" angewendet wurde, um die Schauspieler digital älter oder jünger werden zu lassen. Abgesehen von solchen Computerkünsten besticht der Film aber vor allem durch die herausregenden darstellerischen Leistungen.  Man hat De Niro schon seit vielen Jahren nicht mehr dermaßen spielfreudig erlebt, Pacino sprüht als Hoffa vor Charisma und Pesci hält mit diesen zwei Kollegen locker mit – ja, er ist vielleicht sogar der eigentliche Star, denn diesen gleichermaßen väterlich-freundlichen und eiskalt-gefährlichen Mafiapaten mit dem verwitterten Gesicht einer alten Schildkröte wird man so schnell nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Scorsese hat seine Filmkunst hier zur absoluten Perfektion entwickelt und „The Irishman“ zu sehen ist ein bereicherndes Erlebnis (man könnte auch „beglückend“ hinzufügen, doch das würde angesichts der Handlung etwas zynisch klingen).

5 von 5 ungesühnten Tötungsdelikten