Filmkritiken

"Tár": Cate Blanchett in phänomenalem Me-Too-Drama

Lydia Tár ist eine Ikone. Sie gehört zum erlesenen Kreis der EGOTs, also jener 18 KünstlerInnen, die es geschafft haben, einen Emmy, Grammy, Oscar und Tony zu gewinnen. Sie ist die erste Chefdirigentin eines deutschen Orchesters und fast auf dem Zenit ihrer Karriere. Das Einzige, was ihr zur Vollkommenheit ihres Schaffens fehlt, ist eine Aufnahme von Gustav Mahlers 5. Symphonie. Während sie für die perfekte Aufnahme probt, vermischt Lydia immer mehr ihr Privat- und Arbeitsleben. Ihre Assistentin Francesca bekommt die Verschiebung ihrer moralischen Grenzen aus nächster Nähe mit und versucht, im Chaos der Machtgefälle ihre eigene Haltung zu wahren. 

Lydia hat sich jahrzehntelang in der Musikszene hochgearbeitet und wird kurz vor ihrem größten Erfolg mit ihren eigenen Schattenseiten konfrontiert. Gefangen in komplexen Machtdynamiken und gigantischen Egos, landet sie auf dem harten Boden der Tatsachen. 

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Besessene Künstlerin

Eigentlich fängt alles sehr unspektakulär an. Die Dirigentin spricht über ihre Arbeit, organisiert Termine mit einem Kollegen und unterrichtet die Klassik-Elite der Zukunft. Keine raffinierten Wendungen oder bombastischen Effekte wecken hier das Interesse des Publikums, sondern die Getriebenheit der Hauptfigur zieht einen in ihren Bann. 

Lydia Tár ist besessen von ihrer Arbeit und verlangt von ihrem Umfeld absolute Höchstleistungen. Sie hat große Ziele und um diese zu erreichen, ist sie bereit, bis zum Äußerstem zu gehen. Ihr Qualitätsmaßstab ist einzig und allein die künstlerische Perfektion. Gefühle, Moral und politische Haltungen sind für sie zwar Hürden, aber keine Hindernisse. Das wird besonders deutlich, als einer ihrer Schüler sich weigert, Bach-Stücke zu spielen, weil dieser als frauenfeindlich galt. Zwei Welten prallen aufeinander und Lydia ist gezwungen, ihre eigene Position zu hinterfragen. 

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Gefahren der Macht

"Tár" ist ein überwältigender und unangenehmer Film. Seit mehreren Jahren müssen sich vor allem mächtige Männer immer öfters für ihr übergriffiges Verhalten rechtfertigen. Der Kampf für die Gleichberechtigung von Frauen findet in der Gesellschaft immer mehr Anklang und sorgt für große politische Debatten. In diesem Film ist jedoch kein alter weißer CIS-Mann, sondern eine deutlich jüngere, homosexuelle Frau mit Migrationshintergrund an der Spitze der Machtpyramide. 

Diese scheinbar widersprüchliche Konstellation sorgt für unglaublich viel Spannung. Einerseits bietet die Figur von Lydia Tár einen Nährboden für reaktionäre Ideologien, die männliche Gewalttaten bagatellisieren und fortschrittliche Debatten unterbinden, andererseits strahlt ihre Ambivalenz durch den Nebel der tagespolitischen Diskurse hindurch und eröffnet dadurch einen Raum, in dem man über die Mechanismen, die unseren gesellschaftlichen Problemen zu Grunde liegen, nachdenken kann. Es scheint jedoch wichtig zu betonen, dass Lydia Tár eine vollkommen fiktionale Figur ist. 

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Berliner Drama

Der Großteil des Films spielt in Berlin. Lydia ist die Chefdirigentin des Berliner Orchesters, das im Film jedoch von der Dresdner Philharmonie gespielt wird. Dabei treten die hochklassigen InstrumentalistInnen nicht nur zur musikalischen Untermalung auf, sondern sind auch glaubwürdiger Bestandteil des Films. Sie interagieren mit den Hauptfiguren und geben der Fiktion die notwendige Authentizität. 

Selten hat man Berlin so eindrucksvoll auf der Leinwand gesehen. Kameramann Florian Hoffmeister hat zwar schon zuvor in internationalen Produktionen mitgewirkt, doch mit "Tár" ist ihm ein Meilenstein gelungen, für den er am Camerimage Filmfestival mit dem Goldenen Frosch, dem wichtigsten Kamerapreis der Branche, ausgezeichnet wurde. 

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Österreichische Beteiligung

Es ist 16 Jahre her, dass Regisseur und Drehbuchautor Todd Field einen Kinofilm gemacht hat. Das Drehbuch zu seinem neusten Film entstand in den ersten Monaten der Corona-Pandemie und das sieht man diesem Projekt auch an. Lydias Welt wird in ihren Grundfesten erschüttert und ein apokalyptisches Gefühl der spirituellen Leere hängt über jeder Szene. 

Field ist ein Regisseur, der alle Bereiche seiner Arbeit beherrscht und weiß, wann er wie welche Elemente einsetzen muss, um sein Anliegen wirkungsvoll dem Publikum zu kommunizieren. Die Positionierung der Kamera und DarstellerInnen besticht durch eine umwerfende Klarheit und Eleganz. Field schlägt stets die richtigen Töne an und wahrt die Würde seiner ProtagonistInnen. Ausschlaggebend für den Erfolg des Dramas ist zudem die geniale Arbeit der Schnittmeisterin Monika Willi. Die Österreicherin arbeitete viele Jahre mit Michael Haneke zusammen und kreiert hier einen einzigartigen Erzählrythmus, der essenziell für die Musikalität des Films ist. Willi ist für ihre Arbeit für einen Oscar nominiert und hat große Chancen, diesen auch zu gewinnen. 

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Cate Blanchett als Oscar-Favoritin

Auch wenn "Tár" erzählerisch unglaublich raffiniert ist, steht und fällt dieses Drama mit der schauspielerischen Leistung von Cate Blanchett. Die zweifache Oscar-Preisträgerin spielte die ambitionierte Dirigentin mit jeder Faser ihres Körpers und ist auf der Leinwand kaum wiederzuerkennen. Sie verfällt nie in Sentimentalität, sondern marschiert mit einer furchteinflössenden Selbstverständlichkeit durch die packende Tragödie. Blanchett erhielt für ihre Leistung den Preis als Beste Darstellerin auf den Filmfestspielen in Venedig. 

Neben Blanchett stehen mit Nina Hoss und Noémi Merlant zwei Größen des europäischen Kinos vor der Kamera. Hoss spielt sowohl die erste Geige in Blanchetts Orchester als auch ihre Partnerin, mit der sie ein gemeinsames Kind hat. Merlant besticht als feinfühlige Assistentin, die auf der Suche nach ihrem eigenen moralischen Kompass ist.

"Tár" ist jetzt schon ein moderner Klassiker und setzt Maßstäbe für das Kino der Postpandemie.

Der Film erscheint am 2. März in unseren Kinos.