„Systemsprenger“: Zu wild für den Staat
Von Oezguer Anil
Benni (Helena Zengel) ist neun Jahre alt und wurde von ihrer Mutter ins Heim gesteckt. Da sie zu jung für eine stationäre Aufnahme in einer Psychiatrie ist, wird sie wegen ihrer Aggressionsausbrüche von einer Einrichtung in die nächste geschickt. Beim Versuch sie gesellschaftsfähig zu machen, stoßen die Erzieher an ihre Grenzen. Gefangen zwischen kindlichem Spieltrieben und ihrer harten Lebensrealität zerreißt Benni alle sozialen Auffangnetze eines bemühten Systems.
Komplexes System
Das Spielfilmdebüt der deutschen Regisseurin und Autorin Nora Fingscheidt erhielt auf der Berlinale den Silbernen Bären für neue Perspektiven der Filmkunst. Das Sozialdrama zeichnet sich vor allem durch eine gute Recherchearbeit und die detaillierte Darstellung der deutschen Kinder- und Jugendhilfsorganisationen aus. Das glücklicherweise breitgefächerte soziale Hilfsnetz wird hier in all seiner Komplexität gezeigt und glaubwürdig in die emotionale Erzählung eingebunden.
Nachwuchshoffnung
All diese Feinheiten der Recherche stechen einem jedoch beim ersten Blick nicht direkt ins Auge, da man von der unglaublichen Leistung der neunjährigen Helena Zengel in Schockstarre ist. Das Anforderungsprofil ihrer Figur wäre für eine erfahrene Darstellerin schon eine große Herausforderung gewesen. Fingscheidt geht das Risiko ein, große emotionale Ausbrüche und die darauffolgenden melancholischen Verstimmungen einer Kinderdarstellerin zuzumuten und triumphiert dabei auf ganzer Linie. Zengel stand zwar schon öfters vor der Kamera aber keine Schauspieltrainerin der Welt trübt hier das ungezügelte Talent dieser Nachwuchshoffnung des deutschen Kinos. Mit ihrem Können beeindruckte sie inzwischen auch "Bourne"-Regisseur Paul Greengrass und wird in seinem nächsten Western „News of the World“ neben Tom Hanks zu sehen sein.
Kitsch
Trotz der beeindruckenden schauspielerischen Leistung fühlt man sich bei „Systemsprenger“ unwohl, nicht weil die Handlung so erschütternd oder die Thematik so schwer ist, sondern weil die Art und Weise wie das harte Schicksal der Protagonistin gezeigt wird ins Voyeuristische kippt. Man schlachtet das Leid der Figuren bis auf das Maximum aus und verwehrt ihnen jegliche Autonomie. Der expressive Umgang mit Gewalt führt nicht dazu, dass einem die Figuren immer näher gehen, sondern dass man als Zuseher immer mehr abstumpft und nur noch bei Laune gehalten wird, wenn sich die Gewaltausbrüche steigern. Diese Erzählweise ist durchaus legitim, wirkt aber nach dem dritten Schreiduell bereits redundant und muss nicht unbedingt mit dem Preis für neue Perspektiven der Filmkunst ausgezeichnet werden.