"Napoleon" von Ridley Scott: Das Film-Highlight 2023?
Von Maike Karr
Mit "Napoleon" liefert der gefeierte Regisseur Ridley Scott nach Meisterwerken wie "Gladiator", der "Alien"-Reihe und "Blade Runner" sein nächstes Epos ab, das von Filmfans schon sehnlichst erwartet wurde. Kann das Biopic die Erwartungen erfüllen oder sogar übertreffen? Und begibt sich Joaquin Phoenix nach seiner phänomenalen Darstellung von "Joker" erneut auf Oscar-Kurs? Hier ist unsere Kritik.
Atemberaubender Adrenalinrausch
Wenig überraschend spielt sich der Großteil von "Napoleon" auf dem Schlachtfeld ab. Genau bei diesen Szenen treten Ridley Scotts Stärken zutage. Er inszeniert schwindelerregend komplexe Szenen so, sodass wir die allgemeine Strategie erahnen können, auch wenn er uns mit brutalen Details gerne erschreckt. Die Schlachten sind blutig, überwältigend und ergreifend. Trotz der Gewalt und Skrupellosigkeit entstehen paradoxerweise wunderschöne Aufnahmen, deren tragisches Ausmaß zutiefst schockiert.
Es steht außer Frage, dass die Kampfsequenzen beeindruckend sind, sie ziehen sofort in ihren Bann. Mit zahlreichen Kameras, donnerndem, einhüllendem Sound und einer ausgeklügelten Action-Choreografie gelingt es Scott, sowohl den überwältigenden Tumult mitten in der Schlacht als auch die akribische Effizienz von Napoleons strategischer Planung zu vermitteln. Napoleons Schlachten werden als taktisches Meisterwerk dargestellt, Bonaparte als genialer Kriegsstratege.
Alles für den Ruhm
Wie Napoleon selbst geht der Film mit dem schieren Ausmaß der Verluste an Menschenleben eher beiläufig um und versäumt es, die Männer der Infanterie nicht nur als Kanonenfutter zu inszenieren. Der einzige Tod, der von Bonaparte annähernd betrauert wird, ist der eines Pferdes, das von einer Kanonenkugel in die Brust getroffen und unter ihm weggeschleudert wird. Dass bei seinen Schlachten über drei Millionen Soldaten ums Leben gekommen sind, schert das Biopic leider recht wenig und präsentiert den skrupellosen Militärstrategen gefährlich unkritisch.
Abgesehen davon werden Napoleons Motive im Laufe des Spielfilms auch nicht wirklich deutlich – außer, dass es ihm um Ruhm und Macht geht. Hierauf hätte eindeutig tiefer in seine Geschichte eingegangen werden können, um Napoleon einen multidimensionalen Charakter zu geben, dessen Handlungen mehr Bedeutung verliehen wird.
Joaquin Phoenix als Napoleon auf Oscar-Kurs?
Sowohl Zuschauer:innen als auch Filmschaffenden ist klar, dass die Oscar Academy auf Biopics steht – ob es nun um die Auszeichnung des besten Films, der besten Regie oder der besten schauspielerischen Leistung geht. Eine so ikonische und berühmt-berüchtigte Figur wie Napoleon Bonaparte darzustellen, schreit also förmlich nach einem Oscar. Doch gelingt Joaquin Phoenix, so wie seiner Rolle, der Siegeszug? Das ist noch unklar.
So wie die historische Figur selbst spaltet auch Phoenix das Publikum mit seiner Darstellung. Er brilliert hier jedoch in der Rolle des französischen Kaisers, wird vollkommen eins mit seiner Figur und fesselt schlichtweg an die Kinoleinwand.
Was jedoch zugegebenermaßen die Authentizität seiner Performance als Napoleon mindert, ist sein Alter, das den Großteil des Films über nicht dem geschichtlichen Original entspricht. "Napoleon" beginnt mit der Französischen Revolution 1789, zu der die Titelfigur gerade mal 24 Jahre alt war. Joaquin Phoenix sind seine 49 Jahre doch deutlich anzumerken.
Gegen Ende des Spielfilms passen Aussehen und Alter wie die Faust aufs Auge, machen jedoch nicht den vorherigen störenden Altersunterschied rückgängig. Der eines jüngeren Schauspielers oder zumindest von CGI wäre für einen Napoleon in seinen 20ern wohl ratsam gewesen.
Majestätische Kostüme und prunkvolles Setting
Ridley Scott präsentiert Bilder, bei denen man sich wünscht, dass die Leinwand noch größer wäre, um ihr Ausmaß und ihre Tragweite richtig zu erfassen, sowie einen Prunk, der nach Prestige schreit. Sowohl das höfische Setting als auch jenes auf dem Schlachtfeld sind äußerst authentisch und tragen zusammen mit den Kostümen zu einer allumfassenden Atmosphäre bei, die es beim Zusehen leicht machen, in "Napoleon" zu versinken.
An jeder Stelle merkt man, dass die unvorstellbare Summe von 200 Millionen Dollar goldrichtig investiert wurde. Das Biopic strahlt Eleganz, Prunk und Imposanz aus.
Voll gequetschter Film mit Überlänge
"Napoleon" deckt fast 30 Jahre vom Leben seiner Titelfigur ab, dementsprechend viele Inhalt musste Ridley Scott abarbeiten. Auch wenn der Spielfilm bereits mit einer Überlänge daherkommt, scheint die Zeit nicht zu reichen, denn "Napoleon" wird stellenweise so mit Details vollgestopft, dass man als Zuschauer:in gar nicht zum Aufatmen kommt und den episch inszenierten Schlachten, Putschen, Aufständen, Bombardierungen und Hinrichtungen nicht die Aufmerksamkeit schenken kann, die sie verdienen.
Die große Bandbreite an Themen verlangt den Zuschauer:innen dennoch einiges ab, man sehnt sich schon fast nach einer Pause – oder dem Filmende. So wird man leider etwas übersättigt aus dem Kinosaal entlassen.
Wer nach dem Kinobesuch noch nicht genug von Ridley Scotts "Napoleon" bekommen hat, kann sich den beinahe vierstündigen Director's Cut auf Apple TV+ anschauen. Der Streamingdienst, der bereits 2022 mit "CODA" den besten Oscarfilm hervorgebracht hat und damit Geschichte geschrieben hat, steckt hinter dem Historienepos.
film.at-Fazit
Mit "Napoleon" liefert Ridley Scott ein Historienepos ab, das dem Publikum einen puren Adrenalinrausch verpasst. Das Biopic gilt als Filmhighlight von 2023, dementsprechend hoch waren die Erwartungen an den Film, der diese nur teilweise erfüllen kann. Trotz einiger Makel im Drehbuch liefert Ridley Scott ein Action-Spektakel ab, bei dem die Zuschauer:innen den Atem anhalten müssen. Ein unerwarteter Pluspunkt: "Napoleon" wartet mit erstaunlich viel Humor auf, was die sonst so ernste Stimmung angenehm auflockert.
Wertung: 4 von 5 Zweispitzen