"Liebes Kind": Lohnt sich die deutsche Thrillerserie auf Netflix?
Von Franco Schedl
In unserer Rubrik "Lohnt sich das?" stellen wir euch einmal wöchentlich einen Streamingtitel (Film oder Serie), der in aller Munde ist, vor, nehmen ihn genauer unter die Lupe und fragen für euch die altbekannte Frage: "Lohnt sich das überhaupt?" Lohnt es sich, dafür Zeit zu investieren? Ein Abo abzuschließen? Oder ein Abo zu beenden?
Diesmal: (Alle sechs Folgen von) "Liebes Kind" auf Netflix.
Das lässt nichts Gutes erahnen: eine Frau mit zwei Kinder, die offenbar von einem Mann in einem ausgebauten Keller gefangen gehalten wird. Dass wir es hier mit einem Verbrechen zu tun haben, bei dem sich vor allem bei Österreicher:innen sofort Namen wie Priklopil und Fritzl aufdrängen, scheint nach kaum zwei Minuten klar zu sein.
Wenig später läuft die Frau panisch durch einen Wald und direkt vor ein Auto. Dieser Unfall löst eine folgenschwere Kettenreaktion aus und vor allem ihre ebenfalls anwesende junge Tochter Hannah erzählt seltsame Dinge, die sofort das Interesse von Spitalpersonal, Polizei und Psycholog:innen erwecken. Auch ein älteres Ehepaar bricht in einer Gefühlsmischung aus Hoffnung und Verzweiflung hektisch zum Krankenhaus auf, als es von dem Unfall erfährt.
Verschiedene Zeitebenen
Rasch sind wir ebenso verunsichert wie diese Personen, denn alles, was wir erfahren, wird aus der Perspektive des Kindes oder der geheimnisvollen Frau erzählt, und die Geschichte trägt sich vor allem über die ersten drei Folgen hinweg immer auf zwei Zeitebenen zu: Viele Rückblenden verschaffen fragmentarische Einblicke in ein furchtbares Geschehen, aber auch Widersprüche häufen sich.
Welches Motiv hinter der Entführung steckt, ist bald schon deutlich, doch die Identität des Verbrechers wird erst in der letzten Folge enthüllt; bis dahin sehen wir nie sein Gesicht, hören aber zumindest seine Stimme und bekommen mit, dass er – wie ein böser Gott – wirklich alles überwachen kann.
Psychologisch glaubhaft
Im Aufbau erinnert die Geschichte nach dem Bestseller von Romy Hausmann übrigens stark an Werke des Thrillerautors Sebastian Fitzek, dessen Romane ebenso bereits oft verfilmt werden ( "Passagier 23", "Das Kind", "Abgeschnitten") – nur hätte Fitzek wohl wesentlich mehr in Blut und Brutalität geschwelgt, während in "Liebes Kind" auch die heftigsten Szenen nie eine gewisse Brutalitäts-Grenze überschreiten und alles viel psychologischer aufgebaut ist.
Die Zeit nach der Flucht ist nämlich ebenso wichtig wie die Zeit der Gefangenschaft selbst und uns wird mit beklemmender Deutlichkeit vor Augen geführt, welche Nachwirkungen solch ein Leben in der Gewalt eines Psychopathen unter strengen "Regeln" für alle Opfer hat.
"Room" als Vorbild?
Durch dieses Konzept ergeben sich starke Parallelen zum Film "Room" von 2015 mit Brie Larson und Jacob Tremblay, in dem eine Mutter und ihr kleiner Sohn ebenfalls ihrem Peiniger aus einem Kellerraum entkommen konnten und mit dem Leben in der ungewohnten Freiheit zunächst Schwierigkeiten haben. Damals handelte es sich auch um eine Bestsellerverfilmung einer Autorin, und es ist wohl nicht zu übersehen, dass Romy Hausmann durch dieses Werk angeregt wurde, ihren eigenen Stoff zu entwickeln.
Begeisterte Autorin Hausmann und tolle Crew
Die Serien-Macher:innen haben eine unglaublich stimmige Arbeit abgeliefert: Isabel Kleefeld und Julian Pörksen brachten zwar einige wesentliche Veränderungen im Unterschied zum Buch an, doch die ergeben so viel Sinn, dass sie auch von der Buchautorin begeistert gutgeheißen wurden.
In einem Interview mit Hausmann, das sich im Presseheft zum Film findet, beschreibt sie ihre Reaktionen, als sie die Serie erstmals sehen durfte: "Über die ersten drei Folgen hinweg habe ich nur geheult, weil ich gar nicht klarkam mit meinen Emotionen. Ich liebe die Serie und bin unendlich dankbar, wie viel Mühe und Liebe alle Beteiligten hineingesteckt haben."
Auch die Darsteller:innen sind außergewöhnlich, und jede einzelne Rolle wurde perfekt besetzt. In der erwachsenen Hauptrolle lässt uns Kim Riedle an einer körperlichen und geistigen Tortur oft intensiver teilhaben, als es uns lieb wäre. Aber man muss vor allem die beiden Kinder Naila Schuberth und Sammy Schrein bewundern, dass sie eine derartig anspruchsvolle Aufgabe so gut gemeistert haben.
Lohnt sich "Liebes Kind"?
Somit erwartet uns in der sechsteiligen Miniserie "Liebe Kind" wesentlich mehr als etwa ein herkömmliches Entführungsdrama, das die meiste Zeit in einem Keller spielt; die Überraschungen nehmen einfach kein Ende. Wie viel hier wirklich passiert, erkennt man schon daran, dass Netflix eine "Bitte nicht spoilern"-Botschaft ausgeschickt hat und darin 12 Handlungsdetails aufzählt, die man unerwähnt lassen sollte.
Natürlich halte ich mich daran, doch so viel darf ich auf jeden Fall verraten: "Liebes Kind" ist eine Produktion, die uns von der ersten Sekunde an packt und für die der Begriff "Binge Watching" geradezu erfunden wurde.
5 von 5 Sternen
Für Fans von: "Raum", "3096 Tage", "10 Cloverfield Lane"