"Leave the World Behind": Lohnt sich der starbesetzte Netflix-Film?
Von Oezguer Anil
In unserer Rubrik "Lohnt sich das?" stellen wir euch einmal wöchentlich einen Streamingtitel (Film oder Serie), der in aller Munde ist, vor, nehmen ihn genauer unter die Lupe und stellen für euch die altbekannte Frage: "Lohnt sich das überhaupt?" Lohnt es sich, dafür Zeit zu investieren? Ein Abo abzuschließen? Oder ein Abo zu beenden?
Diesmal: "Leave the World Behind" auf Netflix
Amanda und Clay Sandford haben genug vom New Yorker Großstadtdschungel und mieten sich gemeinsam mit ihren Kindern Rose und Archie für ein Wochenende in eine Luxusvilla in Long Island ein. Amanda freut sich, endlich keine Menschenmassen mehr um sich herum zu haben, doch schon bald nehmen seltsame Dinge ihren Lauf.
In der ersten Nacht stehen George und seine Tochter Ruth vor der Haustür. Sie behaupten, dass das Haus ihnen gehöre, sie einen Termin in der Stadt absagen mussten und nun gerne wieder in ihre Unterkunft zurückkehren wollen. Der Umgang mit den Fremden treibt einen Keil zwischen Amanda und Clay, wodurch ein viel größeres Problem offenbart wird, das das Leben beider Familien für immer verändern wird.
"Leave the World Behind" widersetzt sich einer Genre-Zuordnung
“Leave the World Behind” ist gespickt mit zahlreichen unerwarteten Wendungen, wodurch man kaum einschätzen kann, in welche Richtung sich die Geschichte entwickeln wird. Der Film changiert zwischen Familiendrama und Apokalypsen-Epos, aber lässt sich dennoch in kein klares Genre einordnen. Die Charaktere stehen hier im Fokus, doch das Chaos um sie herum, lässt sie an ihre emotionalen Grenzen stoßen und genau diese Grenzen möchte dieser Film ausloten.
Wie lang dauert es, bis gebildete Menschen ihre guten Manieren über Bord werfen und beginnen, rücksichtslos zu handeln? Können wir uns auf andere Menschen verlassen oder kann man in Extremsituationen nur sich selber vertrauen? Diese Fragen bilden den Kern von “Leave the World Behind” und konfrontieren uns mit unangenehmen Wahrheiten.
Gelungene Romanverfilmung
Der Netflix-Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Rumaan Alam und blickt tief in die Seele einer gespaltenen Welt. Hätte Alam das Buch nicht von vor der Pandemie geschrieben, würde man die Geschichte ganz klar als eine Pandemie-Metapher lesen können. Die Figuren sind in einem Haus isoliert, haben Angst vor Kontakt mit anderen Menschen, niemand weiß, wie schlimm die Lage tatsächlich ist: Alams Werk überzeugt durch prophetische Genauigkeit.
Die Handlung ist extrem präzise konstruiert, sodass man fast wie in einem Thriller gespannt am Bildschirm sitzt und sich wundert, wie es weitergehen könnte. Auch die Laufzeit von knapp zweieinhalb Stunden vergisst man dabei vollkommen, weil man mit derart vielen Geheimnissen konfrontiert wird, dass man ständig auf die nächste Szene gespannt ist.
Verrückte Kamera
Um die seltsame Stimmung des Buches transportieren zu können, bedient sich Regisseur Sam Esmail sehr ungewöhnlichen Inszenierungstechniken. In sehr vielen Szenen ist die Kamera auf einem Kran montiert und schwebt geisterhaft um die Figuren herum und kreiert dabei auch in ruhigen Momenten eine große Unbehaglichkeit. Zusätzlich wird das Raumgefühl gebrochen, indem das Bild immer wieder am Kopf oder auf der Seite steht. Genauso wie die Figuren verliert auch das Publikum ständig die Orientierung.
Nur in wenigen Momenten verliebt sich die Kamera zu sehr in die wunderschönen Drehorte und man bekommt das Gefühl, kurzzeitig in einer Werbung für Luxuswohnhäuser zu sitzen. Emotionale Höhepunkte entstehen hier vor allem in jenen Momenten, in denen die Musik nicht die Schönheit der Bilder untermalt, sondern das Grauen dahinter spürbar macht.
Wer spielt mit?
Vor der Kamera bekommt man einen fantastischen Cast präsentiert. Julia Roberts und Ethan Hawke harmonieren perfekt als gereiztes Ehepaar. Beide porträtieren facettenreiche Figuren, die auch abseits ihrer Beziehung eine Persönlichkeit haben und vor allem Roberts zeigt auch immer wieder unsympathische Seiten von sich. Mahershala Ali spielt die Ambivalenz seiner Figur mit höchster Brillanz und zeigt, dass er nicht umsonst zwei Mal mit dem Oscar ausgezeichnet wurde.
In den Nebenrollen sind Farrah Mackenzie, Charlie Evans und Myha’la Herrold zu sehen. Alle drei liefern eine starke Performance ab, wobei Mackenzie mit ihrer Kindlichkeit dem Film eine notwendige Lebendigkeit verleiht.
Fazit
Fans von Weltuntergangsfilmen werden vermutlich von der unkonventionellen Erzählweise irritiert sein, da es keine Actionsequenzen im Minutentakt gibt, sondern man Menschen und ihre Abgründe beobachtet. "Leave the World Behind" überzeugt durch eine starke Geschichte und einem phantastischen Cast, wobei das Ende definitiv für Diskussionen sorgen wird – doch genau das ist auch beabsichtigt ...
4 von 5 Sternen
Für Fans von: John and the Hole, The Day After Tomorrow, Take Shelter