Filmkritiken

"Depp vs. Heard": Lohnt sich die neue Netflix-Promi-Doku?

In unserer Rubrik "Lohnt sich das?" stellen wir euch einmal wöchentlich einen Streamingtitel (Film oder Serie), der in aller Munde ist, vor, nehmen ihn genauer unter die Lupe und stellen für euch die altbekannte Frage: "Lohnt sich das überhaupt?" Lohnt es sich, dafür Zeit zu investieren? Ein Abo abzuschließen? Oder ein Abo zu beenden?

Diesmal: (Alle Folgen von) "Johnny Depp gegen Amber Heard" auf Netflix. 

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Von April bis Juni 2022 wurde die Welt zum Mikrokosmos, das gemeinsame Kollektiv der Gerichtssaal im US-Bundesstaat Virginia – und wir alle zu Richter:innen, die über Wahr und Falsch, Täter- und Opferfrage, Realität und Manipulation entschieden: Der gegenseitige Verleumdungsprozess von Johnny Depp und Amber Heard wurde dank zugelassenen Kameras im Gerichtssaal (was Depps Idee gewesen sein soll; Heard war angeblich weniger amused darüber) zum internationalen Medienzirkus, zum skurrilen Rechtsspektakel, in dem es weniger um die Schuldfrage denn um Sympathiewerte ging.

Mehr als 200 Stunden wurden aus dem Gerichtssaal live gestreamt, Millionen Menschen schauten gebannt zu – und prompt wurde die "Depp vs. Heard"-Verhandlung zum allerersten TikTok-Prozess der Menschheitsgeschichte. Und obwohl der Stoff perfekt für eine fiktionale Verfilmung wäre (Glamour-Turteltauben, die zu Erzfeinden werden; Hollywood-Klischees von der aufstrebenden Jungdarstellerin bis hin zum abgewrackten Superstar; MeToo; überraschende Twists; menschliche Fäkalien und ein Anwalt, der gegen sich selbst Einspruch erhebt) entschied sich Netflix doch, daraus eine Dokuserie zu basteln:

Drei Folgen lang versucht "Johnny Depp gegen Amber Heard", der "tatsächlichen Wahrheit" auf die Spur zu kommen. Das verlautbarte hochtrabende Ziel der Doku: "Die Natur der Wahrheit zu hinterfragen und die Rolle, die sie in unserer modernen Gesellschaft spielt." Na bumm. 

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Erstmals direkte Gegenüberstellung der Aussagen

Dass es sich bei "Depp vs. Heard", so der Originaltitel, nicht um eine tiefgehende Analyse von mentaler Gesundheit oder um eine tatsächlich philosophische Abhandlung von Wahrheit geht, dürfte klar sein – schon allein, weil der Gerichtsprozess selbst dafür viel zu viel Theateraufführung war, wie übrigens auch in der Doku wieder mehr als deutlich wird: Sowohl Depp als auch Heard setzten alles daran, um sich perfekt in ihrer jeweils zugedachten Rolle zu inszenieren, authentisch war bei ihren Auftritten nicht viel.

Die 200 Prozessstunden hat Netflix zu rund drei Stunden zusammengeschnitten, wodurch zwangsweise natürlich viel auf der Strecke bleibt. Aber: Wieso eigentlich sich den ganzen Irrsinn noch mal geben, wenn wir damals eh alle live dabei waren? Kann "Johnny Depp gegen Amber Heard" tatsächlich etwas Neues bieten? Netflix bemüht sich immerhin: Die Dokuserie enthält erstmals eine direkte Gegenüberstellung beider Zeugenaussagen, wodurch eine eigene Meinungsbildung der Zuschauer:innen vereinfacht werden soll. Zudem kommen Medienexpert:innen, Influencer:innen und Fans (jeweils aus Social-Media-Material) zu Wort.

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Um Objektivität bemüht

Setzt Netflix mit "Johnny Depp gegen Amber Heard" einmal mehr auf Kontroverse und Skandale? Natürlich, das hat schließlich bereits bei "Tiger King", "Inventing Anna", "Dahmer – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer" und irgendwie auch "Too hot to handle" bestens funktioniert. Die Dokuserie wird Netflix hohe Klickzahlen bescheren, jede:r wird darüber sprechen. Mission: accomplished – und die Doku spiegelt somit perfekt den Charakter des Verleumdungsprozesses selbst wider. Meta-Mission? Ebenfalls accomplished!

Was man Netflix aber bei "Depp vs. Heard" (der Originaltitel klingt doch um einiges griffiger!) zugutehalten darf und muss, ist, dass sich die Serie durchaus um Objektivität bemüht. Gegen Ende mag sich die Sympathie der Regisseurin Emma Cooper (die schon bei Netflix für "Mysterium Marilyn Monroe: Die ungehörten Bänder" verantwortlich zeichnete) zwar etwas in Richtung Heard verschieben, aber großteils geht es in der Doku tatsächlich nicht um die Schuldfrage, Stellung wird keine bezogen. 

Die Frage von Misogynie und Victim-Blaming wird ebenso in den Raum geworfen wie ein eventuell vorschnelles Vorurteilen ohne handfeste Beweise – und auch, wieso es uns immer noch so schwer fällt, einen Mann als Opfer von häuslicher Gewalt zu akzeptieren, lässt die Produktion nicht unerwähnt. Viele Fragen werden aufgeworfen, spezifische Antworten wenig gegeben, vielmehr aber Denkanstöße. Das ist gut so, denn wieder: ganz so wie der Prozess selbst.

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Gericht der öffentlichen Meinung

Überraschend ist auch, dass sich "Depp vs. Heard" nicht auf die skurrilsten Prozessmomente fokussiert, sondern versucht, Protokolle und Beweise, die vor Gericht (nicht) zugelassen wurden, richtig zu deuten. Gossip-Fans werden also eventuell von der Doku enttäuscht sein, zumindest nichts Neues erfahren. Seriös(er) wirkt die Produktion dadurch aber natürlich auf jeden Fall.

Sowieso spielen in "Depp vs. Heard" nicht allein die Szenen im Gerichtssaal eine große Rolle, sondern genauso sehr jene rundherum: Die Thematik der "Öffentlichkeit" als zweite Jury und die Frage, wie eben diese den Prozess aufgenommen hat, und wieso das Interesse so massiv war, stehen in der Doku im Fokus.

Die gerichtliche Schlammschlacht (bei der niemand mit weißer Weste davonkam) hat immerhin die Klickzahlen von TikTok-Creators und YouTube-Kommentator:innen immens in die Höhe getrieben, viele Content Creators konnten eine Menge Geld mit Depp und Heard verdienen Ist das ethisch vertretbar – von all dem Online-Mobbing gegen Heard ganz zu schweigen?

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"Depp vs. Heard" gibt unmissverständlich zu verstehen, dass Social Media einen immensen Einfluss auf den Prozessverlauf hatte, auch manipulativ veränderte Videos und die eventuelle Verwendung von Bots in der #justiceforjohnnydepp-Kampage werden thematisiert. Vor allem aber wird in der Doku einmal mehr deutlich, welch immensen Einfluss eine Fan-Community mittlerweile hat, Erinnerungen zu Britney Spears und auch O.J. Simpson (wenn auch eher in Bezug auf den Medienzirkus) kommen unwillkürlich hoch.

Diese Aspekte sind genauso spannend wie die Gerichtsszenen selbst – und werfen einen leider dunklen Schatten über die moderne Gesellschaft, die sich lieber aufgeklärt gibt, als tatsächlich aufgeklärt zu agieren. 

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So fiel das Urteil zwischen Johnny Depp und Amber Heard aus 

Nach einer sechswöchigen Verhandlung kam das Gericht im Prozess zwischen Johnny Depp und Amber Heard endlich zu einem Urteil: Die Jury stellte sich größtenteils auf die Seite Depps, gab aber auch Heard in einigen Punkten recht. Wegen Verleumdung sollte die Schauspielerin Depp über zehn Millionen Dollar Schadenersatz zahlen. Depp wiederum schuldete ihr nach Entscheidung der Jury zwei Millionen Dollar für Aussagen seines Ex-Anwalts Adam Waldman, die Heards Ruf geschädigt haben sollen.

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Fazit

Sicher ist jedenfalls: "Depp vs. Heard" wird die Online-Debatte rund um den Prozess (bei dem es schon sehr bald um so viel mehr als bloß Verleumdung ging) erneut entfachen, obwohl sie ja eigentlich eh nie wirklich erloschen ist. Indem schon im Vorfeld heftig über die Doku an sich in den sozialen Medien diskutiert und diese stark kritisiert wurde (neue Perspektiven oder Aufkratzen von alten Wunden?), begibt sich "Depp vs. Heard" einmal mehr auf eine Meta-Ebene:

Die (Online-)Öffentlichkeit hat sich immer noch nicht von ihrer Rolle der Jury verabschiedet und die Debatte rund um die Doku ist der beste Beweis dafür. Das mag von Netflix vielleicht nicht beabsichtigt sein, ist aber auf jeden Fall clever – und fördert im besten Fall die Selbstreflexion des/der Zuschauer:in, weshalb sich "Depp vs. Heard" am Ende doch lohnt, auch wenn nur thematische Neulinge wirklich Neues erfahren werden.

Wertung: 4 von 5 Sternen

Für Fans von: Johnny Depp und Amber Heard