Filmkritiken

"Into the Night": Flucht-Flug vor der tödlichen Sonne

Warum fliegt wohl ein Flugzeug dem Sonnenaufgang davon und versucht immer in der Nacht zu bleiben? Dafür sind mehrere Gründe denkbar. An Bord befinden sich vielleicht Vampire. Die Passagiere haben womöglich einen Nachtflug gebucht. Oder der Pilot leidet unter einer bösen Sonnenallergie. Es könnte aber auch sein, dass die Bauteile der Maschine nur mit Wachs zusammengeklebt wurden und kein Sonnenlicht vertragen - ein Flug der Ikarus Air sozusagen. Die Autoren der belgischen Netflixserie „Into The Night“ haben sich allerdings noch eine weitere Möglichkeit einfallen lassen – bzw. der polnische Science-Fiction-Autor Jacek Dukaj, denn sein digitaler Roman „The Old Axolotl“ aus dem Jahr 2015 diente als Vorlage. Es handelt sich hier um ein Problem mit der Polarität der Sonne – alles klar? Aber auch ohne wissenschaftliche (Schein)erklärung wird man sich gern auf diese Geschichte einlassen, um eine Pandemie der etwas anderen Art mitzuerleben.

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Ein seltsamer Entführer

Der Flug von Brüssel nach Moskau hat noch gar nicht abgehoben, als sich schon beunruhigende Vorzeichen bemerkbar machen: Nachrichtenbilder zeigen tote Personen (sogar die Sprecherin selbst ist wohl vor laufender Kamera gestorben) und auch einer Frau in New Yorker dürfte während des Telefonats mit einer der Passagierinnen etwas Schlimmes zugestoßen sein. Ein nervöser Italiener, der angeblich für die NATO arbeitet, scheint davon gar nicht überrascht zu sein und reagiert prompt: er stürmt mit einer Waffe in die erst spärlich besetzte Maschine und zwingt den Piloten, sofort Richtung Westen zu starten, weil die Menschen den Sonnenaufgang nicht überleben würden. Seine Forderungen werden erfüllt (eine junge Frau findet sich in der Rolle der unfreiwilligen Ko-Pilotin, weil sie früher bei der Luftwaffe war), aber man hält den Mann begreiflicherweise für einen Irren. Doch dann verdichten sich die Anzeichen, dass der Italiener womöglich die Wahrheit sagt, und ein anderes Problem tritt auf: wo soll die Maschine landen, sobald der Treibstoff zu Ende geht?

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Gruppenbildungen

Während es sonst üblich ist, dass zunächst die Charaktere in einer ersten Folge langsam und ausführlich vorgestellt werden, geht es hier gleich direkt zur Sache und in der ersten halben Stunde passiert so viel, dass man daraus mindestens zwei Katastrophenfilme machen könnte. In den weiteren Folgen wird die Sonnen-Flucht mit Zwischenlandungen fortgesetzt, aber die Zahl der Passagiere dünnt sich allmählich aus, weil an Bord diverse Spannungen entstehen. Die sechs Episoden tragen als Titel immer den Vornamen einer der Hauptpersonen – also Sylvie, Mathieu oder Jakub, Ayaz, Rik und Terenzio – und so erhalten wir auch kurze Einblicke in die früheren Lebensumstände der jeweiligen Figuren. Uns bietet sich ein sehr vielseitiges Spektrum: hier treffen in einer Extremsituation verschiedene Temperamente, Nationalitäten, Ethnien, Religionen und Sprachen aufeinander, weshalb sich auch manchmal Verständigungsprobleme ergeben oder absichtlich herbeigeführt werden, weil nicht jeder mitbekommen soll, was gerade besprochen wird. Man könnte die Serie als Versuchsanordnung für Gruppendynamik auffassen. Statt gemeinsam die extreme Lage zu meistern, bilden sich Interessensgemeinschaften, die oft gegeneinander vorgehen und alles noch komplizierter machen.

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Zeitdruck

Spezialeffekte oder Action treten dagegen in den Hintergrund, denn die Schauspieler stehen im Mittelpunkt, was ein sehr überzeugendes Konzept ist; auch wenn es eher unwahrscheinlich wirkt, dass man in einer solchen Ausnahmesituation Zeit hat, lange Diskussionen über moralische Fragen zu führen und jemanden anprangert, weil er Zuhälter oder Drogendealer gewesen ist. (Bei anderen Gelegenheiten bringen es die Leute hingegen fertig, unter höchstem Zeitdruck geradezu Übermenschliches zu leisten.) Während die Überlebenden also auf der Suche nach einem sicheren Rückzugsort dahindüsen, ergeben sich immer neue Herausforderungen, und niemals aussetzende Spannung bleibt garantiert. So ein bisschen Coronavirus fällt dagegen kaum ins Gewicht.

3 ½ von 5 Sonnenbrandflecken, die sich hoffentlich nicht als Hautkrebs herausstellen.

 (Übrigens sieht alles danach aus, als würde es auch noch eine zweite Staffel geben.)