Filmkritiken

"Die Schneegesellschaft" auf Netflix: Echter Survival-Horror

Vor über 50 Jahren stürzte ein Flugzeug in den Anden ab, doch ein Teil der Passagiere überlebte im ewigen Eis des Hochgebirges. Dafür mussten sie ein uraltes Tabu brechen. Bekannt als das "Wunder der Anden" wurde es 1993 von Hollywood ins Kino gebracht. J.A. Bayona und Netflix haben den Stoff mit "Die Schneegesellschaft" nun authentischer und auf Spanisch verfilmt. Nur nicht im Flieger anschauen.

Beginnen wir mit dem grausigen "Highlight". Der spanische Filmemacher J.A. Bayona hat eine emotionale Überlebensgeschichte ("The Impossible") und einen Horrorfilm ("Das Waisenhaus") gedreht. Beide Genres nutzt er hier und verschwendet dabei keine Zeit. Es dauert etwa 13 Minuten, bevor er uns in einen schrecklichen Flugabsturz wirft, den er in schmerzlichen Details wiedergibt. 

Im Oktober des Jahres 1972 macht sich ein uruguayisches Rugby-Team mit Freunden und Familie auf den Weg nach Chile, aber wer die Schlagzeilen kennt, der weiß, dass ihr Flieger dort nie ankommen wird. Die Maschine bricht über den schneebedeckten Bergen der Anden auseinander, und einige der 45 Insassen werden entweder sofort weggerissen oder von scharfem Metall durchbohrt. Das Sounddesign: Brechende Knochen und markerschütternde Schreie.

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Die Szene ist in Bezug auf klaustrophobische Kameraarbeit, schwindelerregenden Schnitt und aggressiven Sound vielleicht eine der wirkungsvollsten ihrer Art, obwohl sie eigentlich nur auf einen kleinen Bildschirm beschränkt ist. Der Oscar-Kandidat Spaniens hat schließlich ein Zuhause auf Netflix gefunden. Danach geht es in der von Bayona mitgeschriebenen Geschichte, die auf dem Buch von Pablo Vierci basiert, nicht nur ums Überleben, sondern auch darum, ein stückweit Menschlichkeit zu bewahren und den Opfern dieser Katastrophe ein Denkmal zu setzen (die Namen aller Verstorbenen werden im Verlauf des Dramas eingeblendet). 

Der Spanier hat den Film größtenteils in den wuchtigen Bergen der Sierra Nevada gedreht und versetzt einen mitten in die zugefrorene Hölle. Da ist die brutale Kälte und das eindringliche Pfeifen des Windes, der gegen den Rumpf des Wracks weht, in dem sich die Überlebenden zusammenkauern. Dann kommt eine Lawine - noch mehr Tote. Hunger stellt sich ein. Die Hoffnung auf Rettung verfliegt schnell. Leichen werden im Schnee konserviert, und irgendwann muss eine schreckliche Entscheidung getroffen werden.

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Was uns zum Kannibalismus führt, normalerweise ein Tabu, das Zombies und dem ein oder anderen Serienmörder vorbehalten ist. Bayona geht damit nicht reißerisch, sondern respektvoll um. Er erspart uns hier Nahaufnahmen, aber nicht die komplizierten Gefühle, die damit einhergehen, die Fleischfetzen verstorbener Freunde zu essen. Nachdem sie mehrere Tage lang nichts gegessen haben, bricht eine moralische Diskussion darüber aus, ob sie die Überreste der Toten verzehren dürfen. Der nachdenkliche Ich-Erzähler Numa (ein fabelhafter Enzo Vogrincic) macht zuerst nicht mit, während die zwei Cousins Eduardo (Rafael Federman) und Fito (Esteban Kukuriczka) die Körper außer Sichtweite der anderen zerschneiden und teils Priester, teils Fleischhauer werden.

Die 72 Tage, die 16 von ihnen durchlebten, wurden schon oft verfilmt. Eher sensationslüstern in Rene Cardonas "Survive!" aus dem Jahr 1976. In Hollywood-Manier mit einer anglisierten Besetzung und einem frischgesichtigen Ethan Hawke unter der Regie von Frank Marshall im Jahr 1993 ("Überleben!"). Aber jetzt, wo es keine Scheu mehr vor Untertitel zu geben scheint, dürfte diese Version von Bayona in Spanisch mit einer weitgehend unbekannten und wunderbaren Besetzung jene sein, die sich am Ende durchsetzt.

Er inszeniert groß und doch ganz intim. Es fühlt sich an wie eine Rückkehr zu den Wurzeln der Authentizität, weg von Hollywood-Plattitüden, und auch weg von Blockbustern wie Bayonas vielleicht schlechtestem Film "Jurassic World 2: Das gefallene Königreich". Man darf der "Schneegesellschaft" wünschen, dass sie nicht unter einem Berg von Streamingfilmen begraben wird.

(Von Marietta Steinhart/APA)