"Der Bär in mir": Meister Petz in Tatzennähe
Von Franco Schedl
Gerade in unseren Corona-Zeiten ist der Kontakt zu Menschen vermutlich gefährlicher als der Umgang mit Bären. Das wird sich in weiser Voraussicht auch der Schweizer Dokumentarfilmer Roman Droux gedacht haben, als er bereits längst vor der COVID-Phase ins wildeste Alaksa aufgebrochen ist, um einen Kindheitstraum zu verwirklichen. Einst hat für den gebürtigen Berner alles mit einem Teddybären begonnen, ohne den er nicht einschlafen konnte; später kamen regelmäßige Besuche des Bärengeheges im Zoo dazu. Als er dann einen Vortrag des promovierten Biologen David Bittner hört, ist es vollends um ihn geschehen und er begleitet den Abenteurer für drei Monate ins südlichste Alaska. In der unberührten und menschenleeren Natur werden die beiden Männer nur die Gesellschaft von Bären finden.
Wiedersehen mit Bärenfreunden
Für Bittner ist das eine Wiederbegegnung mit alten Freunden, denn er verbringt bereits seit 2002 jeweils ein Vierteljahr in dem abgelegenen Gebiet. So freut er sich auch, wenn zum Beispiel die Bärin Luna regelmäßig auftaucht oder hält nach seinem Lieblingsbären Balu - zunächst ergebnislos - Ausschau. Gewisse Schutzmaßnahmen sind jedoch einzuhalten: auf die Bären von sich aus zuzugehen, würde wohl einem Selbstmord gleichkommen. Man muss stilhalten, ein paar besänftigende Töne von sich geben und darauf warten, bis sich die Tiere allmählich von selber nähern. Berührungen sind aber auch dann nicht anzuraten, wenn man am Dasein hängt. Ein früherer Bärenforscher, der ebenfalls oft in Alaska unterwegs war, hat seine Leidenschaft zum Beispiel mit dem Leben bezahlt: Seine Leiche wurde von dem Piloten gefunden, der ihn abholen sollte.
Bären als Grasfresser
Die größte Überraschung besteht wohl für uns zunächst darin, dass die Bären, kaum aus dem Winterschlaf erwacht, in ganzen Rudeln zusammenkommen, um auf den Wiesen Gras zu rupfen. Ein Anblick, der eigentlich an Kühe auf unseren Almen erinnert. Die vegetarische Riedgrasnahrung dient aber bloß zur Überbrückung, bis die begehrten Lachse als Hauptgericht eingetroffen sind. Dann bricht für die Grizzlies ihre beste Zeit an: sie futtern sich mit Lachsfleisch voll und sind zuletzt so wählerisch geworden, dass sie nur noch die fettreichsten Fischteile - also Kopf und Haut - fressen.
Ein unglückliches Bärenjunges
Ganz wie im echten Leben lösen witzige und tragische Szene hier einander ab. Die Bären zeigen an den zahlreichen aufgestellten Kameras immer wieder ein tierisches Interesse und wir dürfen zum Beispiel zusehen, wie sich einer von ihnen als Poletänzer an einem Baumstamm versucht. Doch dann treffen wir auf ein Bärenjunges, das mit seinen beiden älteren Geschwistern nicht mithalten kann, zu wenig Nahrung erhält und sich auch noch verletzt. Danach wird es von Mutter und Geschwistern in Stich gelassen und auf den Kleinen wartet der sichere Tod. Tatsächlich sieht man ihn wenig später noch, wie er sich mit schweren Rückenverletzungen dahinschleppt - und dann sind plötzlich nur noch seine blutigen Knochen vorhanden, weil er von einem ausgewachsenen Artgenossen getötet wurde (die Geräusche des Todeskampfs sind in der Nacht zu hören).
Angstbewältigung
Droux hat übrigens bereits 2011 eine Doku über Bittners Bären-Abenteuer vorgelegt, doch damals hatte der britische Kameramann Richard Terry für die Bilder gesorgt. Diesmal ist Droux vor Ort dabei und muss zunächst seine Furcht überwinden, als die ersten braunen Riesen in die Nähe kommen. Zur Sicherheit lagern die Männer auf einem Zeltplatz, der von einem Elektrozaun umgeben ist, und Bittner trägt für den äußersten Notfall auch ein abwehrendes Spray griffbereit in seiner Gürteltasche. Angst kennt er aber offenbar keine – er bleibt stets die Ruhe selbst, auch wenn sich vor seinen Augen Bärenkämpfe abspielen, weil zwei Grizzlies Revierstreitigkeiten austragen. Ein einziges Mal in dieser Doku verliert er dann doch die Fassung und denkt sogar an eine sofortige Abreise, als er in tiefster Dunkelheit einem aggressiven Bärenmännchen begegnet ist. Zuletzt haben Bittner und Droux aber doch die vollen drei Monate durchgehalten und knapp vor ihrer Abreise taucht auch noch der bisher vermisste Bär Balu auf – geradezu ein Drehbucheffekt.
Wir als Zuschauer dürfen uns in vollkommener Sicherheit auf ein großes Naturabenteuer einlassen, dessen eindrucksvolle Schönheit kaum zu überbieten ist. Vielleicht hat ja nach diesem Film der dank Corona berühmt gewordene Babyelefant endlich ausgedient und wird durch junge Bären ersetzt.
4 ½ von 5 Riesenpfotenabdrücken im Uferschlamm