"Beau is Afraid": Joaquin Phoenix fürchtet sich zu Tode
Von Franco Schedl
Da will jemand eigentlich nur seine Mutter besuchen, doch wenn wir nach drei Stunden das Kino wieder verlassen, werden wir überzeugt sein, in "Beau is Afraid" gerade den gnadenlosesten Psychotrip aller Zeiten miterlebt zu haben. Was für eine Reise, welch ein Abenteuer, das Ari Aster für uns hier inszeniert!
Phonix als armes Nervenbündel
Die Stimmung kann jederzeit umschlagen – da bekommt auch schon mal das typische Kinderzimmer eines Teenager-Mädchens etwas Unheimliches und verwandelt sich in eine Krankenstation. Wir bewegen uns jedoch nicht nur durch die reale Welt, sondern in erster Linie durch den Geist der Hauptfigur – und weil die von Joaquin Phoenix gespielt wird, geht es beängstigend großartig zu.
Sein Beau Wassermann ist ein armer Kerl, der von allen erdenklichen Ängsten heimgesucht wird und sein Leben nur mit Medikamenten halbwegs in den Griff bekommt. Jedes Verlassen der eigenen vier Wände stellt die denkbare größte Herausforderung für ihn dar.
Das Chaos regiert
Was auch kein Wunder ist, denn er scheint in einer Welt zu leben, in der das pure Chaos regiert und die Menschen einander bloß als Feind:innen betrachten. Auf der Fahrbahn vor seinem Haus liegt tagelang eine Leiche herum, Freaks sind unterwegs, die Gewalt eskaliert, ein nackter Serienkiller läuft mit einem Messer durch die Straßen und es sieht eigentlich alles wie nach einer Zombie-Apokalypse aus.
In Beaus Wohnhaus ist es ebenfalls entsprechend heruntergekommen; der Aufzug funktioniert nicht richtig, denn seine Türen öffnen sich unter elektrischem Funkensprühen nur zögerlich, und die Hausverwaltung schlägt aufmunternden Warnhinweise vor gefährlichen Spinnen an.
Aber auch in seiner Wohnung ist Beau nicht sicher: Die ganze Nacht hindurch schiebt ihm etwa ein Hausbewohner Zettel mit immer aggressiveren Botschaften unter der Tür durch und beschuldigt ihn Dinge, die er nicht getan hat.
Verstörende Wirkung
Als Zuschauer:in ist man bald selber verunsichert und möchte wissen, ob das alles real sein kann oder sich doch nur in Beaus gequältem Geist abspielt. Je mehr verrückte Dinge geschehen, desto eindeutiger lässt sich diese Frage beantworten. Mit einiger Mühe könnte man vermutlich sogar eine ganz konkrete Geschichte erzählen, wenn man versucht, die ausufernden Geschehnisse nicht mehr aus Beaus Perspektive zu sehen.
Aber das würde dann einen komplett anderen Film ergeben und die verstörende Wirkung aufheben – doch um die ist geht es Regisseur Ari Aster ja in erster Linie. Er schickt Joaquin Phoenix auf eine Reise, die dem Darsteller alles abverlangt – im Vergleich dazu erscheint dessen Arthur Fleck aus "Joker" als beinahe harmloser Zeitgenosse.
Trauma der Geburt
Beau ist nicht nur pausenlos psychisch am Limit, sondern trägt auch äußerlich die Spuren zahlreicher Verletzungen an sich. Noch dazu durchlebt die Figur verschiedene Altersstufen vom Kind bis zum Greis mit Rauschebart. Ja, wir bekommen sogar mit, was es heißt, das Trauma der Geburt zu erleiden, da dieser Film wirklich (!) weit ausholt und praktisch im Mutterleib beginnt.
Im Lauf der Handlung wird immer mehr von Beaus tragischer Familiengeschichte enthüllt und sobald man seine Mutter dann endlich kennenlernt, ist schlagartig klar, weshalb er die Probleme, die er hat, nun mal hat.
Familien-Thema als Leitmotiv
Das Thema "Familie" scheint Ari Aster nicht loszulassen: Bereits sein Erstlingswerk "Hereditary" trägt im Titel den Hinweis auf eine schwere Erbschaft, und die unheimliche Gemeinschaft in "Midsommar" kann ebenfalls als Familienstruktur aufgefasst werden. Mit "Beau is Afraid" führt uns der Regisseur und Drehbuchautor jetzt noch eindrücklicher vor Augen, wie luftabschnürend und fatal sich allzu enge Familienbande auswirken können. Sein Werk ist ein zutiefst verstörendes Erlebnis, bei dem Komik, Grauen und Tragik ganz nahe beieinanderliegen, so wie es mitunter auch im echten Leben der Fall ist.
Laufzeit bis ans Limit
Phoenix kann mit dem aktuell so erfolgreich im Kino fightenden Keanu Reeves aus "John Wick: Kapitel 4" locker mithalten – zwar nicht unbedingt in Sachen Kampfkraft, doch er bringt es ebenfalls fertig, uns drei Stunden lang sprachlos zu machen. Eine noch längere Laufzeit würde man dann aber doch nicht herbeisehnen, weil einem dieser Film tatsächlich sehr mitnimmt als die "Wick"-Metzeleien und uns ein Wechselbad der Gefühle beschert. Wer unter psychischen Problemen leidet, sollte sich "Beau is Afraid" daher wohl besser nicht anschauen.
Zuletzt wird man noch mit großer Verwunderung zur Kenntnis nehmen, dass der Name des Drehbuchautors gar nicht Franz Kafka lautet. Literarisch ambitioniert und rätselhaft zugleich mutet übrigens auch die kurze Inhaltsangabe auf der Referenzseite IMDb an: "Ein Jahrzehnte umfassendes Porträt eines der mächtigsten Unternehmer aller Zeiten." Da hat sich wohl jemand ebenfalls komplett von der Realität verabschiedet und ist im falschen Film (vielleicht "Citizen Kane"?) gelandet.
4 von 5 kopflosen Leichen
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