Filmkritiken

"Assassination Nation": Der schrille Teenie-Thriller ist ein B-Movie-Juwel

Mal ehrlich: Wer hat auf seinem Smartphone nicht zumindest ein paar Fotos mit Erklärungsbedarf, wenn diese öffentlich sichtbar wären. Bilder, die privat oder sogar intim sind oder die ohne Kontext einfach nur ein komisches Bild ergeben? Wer das für eine absurde Frage hält, ist vermutlich lange vor 1990 geboren und hat keine Kids im Teenager-Alter.

"Assassination Nation" von Writer/Director Sam Levinson, übrigens der Sohn von Barry ("Rain Man", "Sleepers"), macht rund um die brennende Frage danach, ob es so etwas wie Privatsphäre im digitalen Zeitalter überhaupt noch gibt, einen provokanten und schrillen Thriller mit B-Movie-Flair. Der Film beginnt mit einer "Trigger-Warnung", für Zart-Besaitete. "Ziemlich krass" wird es werden, warnt die erzählende Hauptfigur Lily, gefolgt von Szenen aus dem folgenden Film mit schrillen Inserts: Flüche, Blut, Gewalt, Missbrauch, Drogen, Sex, Homophobie, Rassismus, Sexismus, Mord und schwache Männeregos sind nur einige der Vorwarnungen für das Publikum.

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Ganz so krass kommt es dann doch nicht, aber schon blutig. Noch um das Jahr 2000 herum wäre "Assassination Nation" wahrscheinlich ein ähnlicher Aufreger gewesen wie "Natural Born Killers" im Jahr 1994, nur dass der blanke Horror des Films nicht verständlich gewesen wäre in einer Zeit vor allgegenwärtigen Smartphones und Plattformen wie Facebook, WhatsApp, Instagram und Youtube. Heute regt hingegen das Ende der Privatsphäre, Vorverurteilung, Hetze und Hass im Internet offenbar keinen mehr auf. Stattdessen mokierte sich so mancher Kritiker darüber, dass der Mittdreißiger Levinson die Jugendsprache ja gar nicht authentisch einfangen könne, als ob das nicht schon immer genau so gewesen wäre. Vor allem aber schießt diese Kritik am Wesentlichen vorbei.

Regisseur und Drehbuchautor Jim Levinson geht die Sache zum Glück etwas anders an. Er hat keine tiefgründige Charakterstudie gemacht, keine Jugend- oder Milieustudie, kein Sozialdrama, aber auch keinen Thriller im typischen Erzählstil Hollywoods. "Assassination Nation" ist ein unterschätzter Rohdiamant, ein modernes B-Movie im Style des 21. Jahrhunderts.

Levinson hält sozusagen keine schöne Rede. Nein, der Mann schreit uns mit einem Megaphon direkt ins Gesicht. Schon die Erzählweise ist – zumindest anfangs – anstrengend: Mit Split- und Handy-Screens sowie Textnachtrichten wird versucht den digitalen Lifestyle der 18-jährigen Charaktere einzufangen. Die Helden sind Frauen, noch dazu eine Teenager-Göre mit dunklen, unsympathischen Seiten. Das ist extrem enervierend. Nerven-auf-reibend!

 

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Kino-Flop und B-Movie-Juwel

"Assassination Nation" ist nichts für Menschen, die sich schnell empören oder leicht reizbar sind, hat der Regisseur über sein eigenes Machwerk gesagt. Kein Wunder, dass der Film an den Kinokassen in den USA fulminant gefloppt ist. Aber naja, die legendärsten B-Movies waren auch keine Kassenschlager im Kino. In die österreichischen Kinos hat es der Film daher gar nicht geschafft. Der geplante Kinostart im November des Vorjahres wurde hierzulande abgesagt, in Deutschland lief der Film kurz im Kino. Aber Streaming ist bekanntlich die Videothek des 21. Jahrhunderts. Nun ist "Assassination Nation" bei Amazon Prime im Abo-Angebot zu sehen – und wir können es nur wärmstens empfehlen!

 

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Worum geht's bei "Assassination Nation"?

Lily (Odessa Young) ist 18 Jahre. Nur mit ihren drei Freundinnen Em (Abra), Sarah (Suki Waterhouse) und Bex (Hari Nef) verbringt sie mehr Zeit als mit ihrem Smartphone, WhatsApp, Instagram und Youtube. Sie lebt in einer Kleinstadt, die wohl nicht zufällig Salem heißt, und ist im letzten Jahr der High School, also kurz vor dem Schulabschluss. Klar, dass da Party angesagt ist und das andere Geschlecht bei den Mädels Top-Priorität genießt. Die vier Freundinnen sind nicht schüchtern und ganz und gar nicht prüde, im Gegenteil.

Doch es gibt Grenzen dessen, was die Öffentlichkeit einer Kleinstadt vertragen kann. Diese Erkenntnis wird Lily auch von ihrem Schuldirektor nahegelegt, der sie wegen pornographischer Zeichnungen im Kunstunterricht zu sich zitiert hat. Ihre durchdachte Rechtfertigung beeindruckt den Direktor, aber dennoch: Wir sind immer noch an der High School einer Kleinstadt. Hier gibt es Grenzen des Zumutbaren, meint er wohlwollend.

Tatsächlich provoziert Lily gerne. Ihren Körper und Sex sieht die intelligente junge Frau als Instrumente, um sich selbst darzustellen. "Du hast echt das Zeug zum Pornostar", meint ihr Freund Mark (Bill Skarsgård), der erotische Fotos von ihr mit seinem Handy macht. Aber dass sie noch viel schärfere Fotos auch an "Daddy" schickt, den Familienvater von gegenüber, dessen Tochter sie früher babygesittet hat, ist dann schon – wie versprochen – ein wenig krass, um nicht zu sagen dumm und unsympathisch. Lily denkt hier wie die meisten Menschen: Handlungen im Internet haben im echten Leben keine Konsequenzen.

Das ändert sich als ein anonymer Hacker die Fotos und Textnachrichten von den Mobiltelefonen sämtlicher Einwohner von Salem veröffentlicht. Lilys digitales Tête-à-Tête mit dem Nachbarn fliegt auf. Ihre Eltern werfen sie raus. Sie steht in der ganzen Stadt als Schlampe da. Aber es komm noch schlimmer: Als bekannt wird, dass die IP-Adresse des Hackers zurückverfolgt werden konnte bis zu Lillys Haus, bricht die Hölle in der kleinen Stadt los. Plötzlich wird der Teenie-Thriller à la "Heathers" zur Horror-Action à la "The Purge". Lilly und ihre Freundinnen werden zum Freiwild randalierender Männer, die sich bloßgestellt fühlen.

 

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Modernes B-Movie: "Heathers" meets "The Purge"

Die Story von "Assassination Nation" ist nicht unbedingt originell. Levinson inszeniert einfach eine Hexenjagd im digitalen Zeitalter. Beeindruckend ist die Art und Weise wie er es macht: Schrill und stylisch wie ein Musikvideo, in einer banalen Action-Story verpackt (der die Tiefe der Charaktere gar nicht so wichtig ist), aber thematisch relevant auf mehreren Ebenen (Privatsphäre, Hetze und Hass im Netz, Pornofizierung, Sexismus um nur einige zu nennen). Und so gar nicht auf die Sehgewohnheiten des Publikums Rücksicht nehmend. Mit einem Wort: Mutig!

Bei einem breiten Kinopublikum war dieses Konzept – wenig überraschend – nicht sehr erfolgreich. Aber wenn man die gewalttätige Action im Film schlicht als Metapher für das Verhalten von Menschen auf Facebook & Co nimmt, für Menschenjagden und Hass-Postings im Internet, die im Film auf das reale Leben übertragen werden – dann hat man plötzlich einen nicht perfekten, aber dennoch großartigen Actionfilm im Stil eines modernen B-Movies vor sich, der (wie viele B-Movies) brennende gesellschaftliche Fragen provokant und ganz banal in den Mittelpunkt stellt.