"All of Us Strangers": Emotionale Reise in die Kindheit
Von Oezguer Anil
Adam ist gerade in seine neue Wohnung in einem Hochhaus am Rande von London gezogen. Der gesamte Wohnkomplex scheint wie ausgestorben, abgesehen von ihm wohnt nur ein weiterer junger Mann namens Harry in dem Gebäude. Als die beiden sich kennenlernen, verändert sich etwas in Adam. Um seinen Kopf frei zukriegen, spaziert er nachts durch die Stadt und trifft in einem Supermarkt auf seinen Vater.
Was anfänglich für Irritation sorgt, entpuppt sich schon bald als Konzept dieses Films. Adams Vater ist nämlich noch genauso alt wie er und als sie in das Haus aus seiner Kindheit gehen, trifft er auch seine Mutter, für die auch die Zeit stehen geblieben zu sein scheint.
Worum geht es in "All of Us Strangers"?
Die Idee von “All of us Strangers” ist schnell erklärt: Während ein erwachsener Mann sich gerade in seinen Nachbarn verliebt, bekommt er die Möglichkeit, seine Eltern in der Vergangenheit zu besuchen. Neben der Tatsache, dass sie noch leben, sind sie auch erst genauso alt wie ihr Sohn, weshalb ihre Beziehung aus einer völlig neuen Perspektive beleuchtet wird.
Was für ein Genre ist “All of us Strangers” also? Romanze? Geisterfilm? Familiendrama? Er ist all diese Dinge gleichzeitig, aber vor allem ist er eins: originell.
Film als Therapie
Der Film basiert auf dem 1987 erschienenen Roman “Sommer mit Fremden” des japanischen Schriftstellers Taichi Yamada. Regisseur Andrew Haigh übernahm jedoch nur die Prämisse der Geschichte und kreierte daraus einen zutiefst persönlichen Film. Genauso wie der Filmemacher ist auch die Hauptfigur im Film Drehbuchautor und homosexuell. Das Haus, in das er zurückkehrt, ist jenes Haus in dem Haigh als Kind aufgewachsen ist.
Dieser unglaublich persönliche Zugang zu den Figuren macht aus “All of Us Strangers” einen fast schon therapeutischen Film. Gemeinsam mit der Hauptfigur bekommt man die Möglichkeit, sich mit seiner Vergangenheit zu konfrontieren und sich auf ein emotionales Gedankenexperiment einzulassen.
Ausbruch aus der Einsamkeit
Der Film stellt die Frage, wie sehr die Beziehung zu unseren Eltern unser Leben beeinflusst und wie sehr wir uns von angelernten Ängsten befreien können. Dabei wird ein großer Fokus auf die Einsamkeit von Adam gelegt.
“All of Us Strangers” schafft es, wie kaum ein anderer Film, das Gefühl von Einsamkeit in Bilder zu fassen. Über die ersten 30 Minuten hinweg spricht die Hauptfigur sehr wenig, doch das ist auch nicht notwendig, da man sein Innenleben durch die Bilder vermittelt bekommt.
Im Kontrast zu der Melancholie, stehen Szenen, die mit Songs wie “Always on my Mind” von den Pet Shop Boys und “Power of Love” von Frankie goes to Hollywood unterlegt sind. Dabei droht der Film stellenweise in den Kitsch zu verfallen, aber zeigt dennoch seine Viruosität im Umgang mit dem Grotesken.
Genialer Cast
Die Hauptfigur wird von Andrew Scott gespielt. Er ist vor allem für seine Rolle als sexy Priester in der zweiten Staffel von “Fleabag” bekannt. Hier zeigt er, dass er auch als Hauptdarsteller einen Film tragen kann und wurde für seine Leistung für einen Golden Globe nominiert. An seiner Seite ist mit Paul Mescal einer der großen Shooting-Stars Hollywoods zu sehen. Mit seinen doppeldeutigen Sprüchen und einer unendlichen Traurigkeit in seinen Augen, erobert er nicht nur das Herz von Adam, sondern auch das des Publikums.
Die Eltern werden von Jamie Bell und Claire Foy verkörpert.
Regisseur Andrew Haigh ist ein Meister darin, tief in die Seelen seiner Charaktere zu blicken. Mit Filmen wie “Weekend” und “45 Years” hat er gezeigt, dass er zu den spannendsten Filmemachern unserer Zeit gehört. Seine persönliche Handschrift ist auch hier sehr deutlich zu erkennen. Das könnte jedoch auch zum Problem für einige Zuseher:innen werden.
“All of us Strangers” fordert das Publikum dazu auf, aktiv zu werden und sich mit der eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen. Wer jedoch keinen emotionalen Zugang zu den Figuren findet, könnte sich in einem frustrierenden Kinoerlebnis wiederfinden.
4 von 5 Sternen
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