EINE BLENDEND HELLE WELT DER SEELENABGRÜNDE
Von Franco Schedl
Wohlweislich wurde der Filmstart erst im Jänner angesetzt, zu einem Zeitpunkt, an dem die Weihnachtskeks-Saison endgültig vorüber ist. Andernfalls hätte uns die Episode mit dem verschrobenen Fußpfleger, der seiner angeschwärmten alten Dame Kekse mit einer ganz speziellen Zutat bäckt, womöglich den Appetit auf diese süßen Kleinigkeiten verdorben. Das ist nur eine von fünf kunstvoll miteinander verwobenen Geschichten, die Regisseurin Frauke Finsterwalder in ihrem Spielfilmdebüt mit einem ganz speziellen Stil voll hinterlistig leisem, schwarzen Humor erzählt. Zwischen Satire, Drama, Sommerkomödie und surreal-märchenhaften Einsprengseln ist in diesem seltsam verfremdeten Deutschland als Schauplatz alles möglich. Das Ergebnis macht Finsterworld zu einem der ungewöhnlichsten Kinowerke der letzten Jahre.
Im Gegensatz zum Titel scheint in diesem Film ständig die Sonne die Finsternis ist also anderswo zu suchen. Das ist auch gar nicht schwer, denn je mehr man über die Protagonisten erfährt und je näher man hinsieht, umso dunklere Seelenabgründe tun sich auf. Da sind ein paar Menschen auf der Suche nach Liebe oder zumindest Gemeinschaftsgefühlen, doch die meisten von ihnen werden scheitern. Die Geschichten (in denen offen oder versteckt die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ihre Spuren hinterlassen hat) steuern alle auf ein tragisches Ende zu und das Böse triumphiert in mehrfacher Hinsicht: eine Krähe stirbt, ein Junge ebenfalls, ein Unschuldiger landet im Gefängnis, das Schulmädchen verliert sein Herz an den Klassenfiesling. Andererseits gibt es doch noch Grund zur Hoffnung: ein ungleiches Paar findet zueinander, und ein Polizist im Bärenkostüm erhält auch noch seine Streicheleinheiten.
Zugleich ist Finsterworld ein echter Ensemblefilm: neben Michael Maertens sind Corinna Harfouch, Johannes Krisch, Carla Juri (dem kompromisslos eigen-artigen Mädchen aus Feuchtgebiete) und die untrennbar mit Fassbinders Filmschaffen verbundene Margit Carstens zu sehen. Darüber hinaus kann uns das Werk mit seinen geschliffenen Dialogen gleichermaßen verblüffen und begeistern. Wie hier Sprache eingesetzt wird, zeugt von hoher Könnerschaft und der Liebe zu Zwischentönen: Immerhin ist das Drehbuch ein Gemeinschaftsprodukt der Regisseurin und ihres Lebenspartners Christian Kracht, der zufällig auch zu den wichtigsten deutschsprachigen Gegenwartsautoren zählt.
Die beiden beweisen dabei viel Sinn für Selbstironie, weil sie sich in vielen der Figuren zweifellos gehörig auf die Schippe nehmen: die egomanische Dokumentarfilmerin etwa gehört einer Profession an, die auch Frau Finsterwalder ausübte; und das blasiert an allem und jedem (und insbesondere Deutschland) herummäkelnde Paar könnte eine Spiegelung des seit 2011 in Ostafrika lebenden Ehepaars Finsterwalder/Kracht sein, das aus der Ferne einen Blick auf Mitteleuropa wirft.
Christian Kracht definiert gutes Kino als einen Zustand, in dem man als Zuschauer keine Luft holen kann, weil die Erwartungshaltung ständig unterlaufen wird. In Finsterworld bleibt einem tatsächlich sehr oft die Luft weg und das berechtigt zu 9 von 10 in atemloser Begeisterung vergebenen Pluspunkten.
(franco schedl)