"The Line": EIN SEILTANZ AUS LIEBE ZU DEN TWIN TOWERS
Von Franco Schedl
Auf einen harmlosen Stadtspaziergang weist dieser Filmtitel garantiert nicht hin. Anstrengend klingt es zwar nicht gerade, was die männliche Hauptfigur da in New York unternimmt: sie setzt bedächtig einen Fuß vor den anderen und legt nicht mal eine große Distanz zurück. Aber das Problem dabei ist: Wir befinden uns eben nicht auf dem BODEN, sondern in luftiger Höhe zwischen den Türmen des World Trade Centers. 1974 hat der französische Seiltänzer Philippe Petit tatsächlich sein illegales aber formvollendetes Kunststück ausgeführt und kurz vor Fertigstellung der Bauwerke die Zwilingstürme sozusagen durch Erstbegehung der Luftlinie eingeweiht.
Eigentlich ist Robert Zemeckis Film ein klassisches Caper Movie: eine verschworene Gemeinschaft will einen minutiös ausgeheckten Plan in die Tat umsetzen. Petit und seine Helfershelfer schleichen sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in die Türme ein und verbringen z.B. etliche Stunden im Versteck über dem offenen Aufzugsschacht, bis ein Wachmann seinen Dienst beendet hat und sie ihr Vorhaben endlich realisieren können. Allerdings handelt es sich bei ihnen eben nicht um Verbrecher, die einen Millionencoup durchziehen wollen, sondern um Idealisten, deren Anführer höchstens solche harmlosen Dinge wie Weltruhm oder Selbstverwirklichung anstrebt.
An Sinn für Selbstinszenierung hat es dem echten Petit wahrlich nicht gemangelt. Ebenso protzig präsentiert sich auch Joseph Gordon-Lewitt in dieser Rolle, wenn er auf dem höchsten Punkt der Freiheitsstatue stehend seine Geschichte erzählt (wobei die Twin Towers natürlich immer den Hintergrund einnehmen). Zunächst glaubt man vielleicht, den aufgesetzten französischen Akzent nicht lange aushalten zu können, doch auch daran gewöhnt man sich. Außerdem spricht Ben Kingsley wenig später als sein väterlicher Freund und Lehrmeister ebenfalls ein seltsames Englisch.
Petit tritt uns als charmanter Gaukler entgegen, der es liebt, Menschen durch Zaubetricks und Jonglierkunststücke zu unterhalten; aber seine wahre Leidenschaft gilt dem horizontal ausgespannten Seil je weiter oben, desto besser. Durch sein Auftreten erweckt er den Eindruck eines durchgeknallten Egozentrikers, der nur sein eines großes Ziel verfolgt und dabei auf nichts und niemand Rücksicht nimmt. Man könnte sogar eine psychologische Theorie aufstellen: hat Petit etwa als Trotzreaktion auf seinen verkleinernder Nachname diesen größenwahnsinnigen Plan ausgeheckt? Wie auch immer: als er dann in der Schwebe zwischen den Türmen hin- und herbalanciert können wir plötzlich nachvollziehen, warum er das alles auf sich genommen hat. Der Mann strebt einen Augenblick persönlicher Freiheit und Größe an, wie er wohl nur einmal im Leben erreicht werden kann.
Bei diesem Film braucht man sich seiner feuchten Handflächen nicht zu schämen und vielleicht ertappen wir uns auch dabei, dass wir unwillkürlich die Armlehnen des Kinosessels umkrampfen. Das ist eine ganz normale Reaktion für alle ungeübten Luftspaziergänger. Nicht-Schwindelfreie haben zumindest Glück: es steht ihnen jederzeit frei, die 3D-Brille abzunehmen.
8 von 10 heftig schwingenden Stahlseilen.
franco schedl