Filmkritiken

EIN INTENSIVES INDISCHES HALBJAHRHUNDERT

Das nennt man gut investiertes Geld: anlässlich eines gemeinsamen Abendessens überließ Salman Rushdie Regisseurin Deepa Mehta die Filmrechte für seinen Roman „Mitternachtskinder“ gegen den symbolischen Betrag von 1 Dollar. Rushdies 1981 publizierte Liebeserklärung an Indien zählt zu den wichtigsten Arbeiten des Autors und braucht den Vergleich zu weltliterarisch bedeutsamen Werken wie „Die Blechtrommel“ oder „Hundert Jahre Einsamkeit“ nicht zu scheuen. Eigentlich galt der Stoff als unverfilmbar, aber vielleicht hätten man einfach viel früher auf die Idee kommen müssen, Rushdie selber ums Drehbuch zu bitten.

Die Handlung ist entsprechend vielschichtig: sie umspannt rund ein halbes Jahrhundert der indischen Historie und erstreckt sich – die Vorgeschichte der Großelterngeneration mit eingerechnet - von der Zeit des Ersten Weltkriegs bis in die Mitte der 70er Jahre. Zwei Kinder aus sehr unterschiedlichen sozialen Schichten werden Schlag Mitternacht am 15. August 1947 geboren und erblicken somit zeitgleich mit Indiens Unabhängigkeit das Licht der Welt. Da sie das Pech haben, von einer Krankenschwester betreut zu werden, die sich von revolutionären Phrasen ihres Geliebten beeinflussen lässt, finden sich die Babies wenig später mit absichtlich vertauschten Namensschildern wieder. Der ursprünglich arm zur Welt Gekommene landet somit unter dem Namen Saleem bei reichen Eltern; er ist es auch, der hier als Erzähler fungiert.

Sein indirekter Genosse Shiva hingegen, der zugleich mit ihm geboren und ebenfalls Opfer des Austausches wurde, entwickelt sich zum dunklen skrupellosen Rivalen – ihre Wege kreuzen einander in den turbulenten Zeiten des Landes immer wieder, was v.a. für Saleem besonders schmerzhaft ausfällt. Die geschichtlichen Parallelen sind so eng mit diesem exemplarischen Lebenslauf verknüpft, dass der junge Mann stellvertretend für das ganze Land mitleidet: bereits in der Schule werden ihm die Haare mit der Kopfhaut ausgerissen, er landet immer wieder im Krankenhaus, findet sich in den indisch-pakistanischen Kriegen Schlägen, Misshandlungen, Folter ausgesetzt und fällt sogar für längere Zeit ins Koma – wodurch zugleich die Theorie des anarchistischen Weltverbesserers und seiner Freundin widerlegt wäre: die erschwindelte Abkunft von besseren Leuten nützt in diesem Fall überhaupt nichts!

Eine weitere Dimension der komplexen Geschichte erschließt sich durch die märchenhaft-mythischen Züge, mit denen Rushdie seinen Roman angereichert hat. Die titelgebenden Mitternachtskinder sind nämlich ein besonderer Menschenschlag, sozusagen die indische Variante der X-Men. Jeder von ihnen verfügt über spezielle Fähigkeiten wie Gestaltwandel, Herrschaft über die Elemente oder Zauberkräfte – und alle stehen miteinander durch Telepathie in Verbindung. Rushdie gelingt es meisterhaft, reale Vorfälle mit den übernatürlichen Elementen zu verknüpfen: unter Premierministerin Indira Gandhi kam es 1975 zu massiven Unruhen, der Notstand wurde ausgerufen und Oppositionelle sahen sich schweren Repressalien ausgesetzt; im Film zählen zu den misshandelten und schonungslos verfolgten Minderheiten auch die Mitternachtskinder, doch gerade die wenigen Überlebenden können in der versöhnlichen Phantasie des Autors zu Hoffnungsträgern des künftigen Indiens werden.

Deepa Mehta bietet ein Stück Bollywood, das neben dem reinen Unterhaltungswert auch literarischen Ansprüchen gerecht wird. Die ungewöhnliche Mischung aus Familiensaga, Fantasyepos und Geschichtsfilm qualifiziert „Mitternachtskinder“ zu 8 von 10 möglichen vollmondbeschienenen Shiva-Statuen.

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