Filmkritiken

"Das schweigende Klassenzimmer": Stummer Protest mit lauten Konsequenzen

Wenn jemand im Schulunterricht einmal den Mund nicht auftut, könnte das einfach bedeuten, dass er auf eine Frage keine Antwort weiß. Wenn aber gleich die ganze Klasse für die Dauer von zwei Minuten schweigt und sich die Szene in einem Klassenzimmer der DDR abspielt, kann das böse Folgen haben. Theo, Kurt und ihre Freunde können davon berichten und haben das vermutlich auch getan, weil die Geschehnisse dieses Films auf wahren Begebenheiten beruhen, und das Drehbuch nach einem Tatsachenbericht entstanden ist.

Entscheidungsfrage

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Regie führte Lars Kraume, der bereits mit „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (2015) ein Zeitbild der deutschen 50er Jahre geboten hat und mit dem Fernsehfilm „Terror – Ihr Urteil“ (2016) Aufsehen erregte, weil hier die Zuschauer durch direkte Abstimmung den Ausgang des gezeigten Prozesses beeinflussen konnten. Auch „Das schweigende Klassenzimmer“ wirkt wie eine Fernsehproduktion, ist aber im Kino auf jeden Fall gut aufgehoben, da man dem Film den größtmöglichen Bekanntheitsgrad wünscht. Immerhin wird in diesem Lehrstück über Zivilcourage auch jeder Zuschauer vor die Entscheidung gestellt, wie er sich selber in einer ähnlichen Situation verhalten hätte.

Schweigen für die Ungarn-Opfer

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1956 gehen zwei Schüler aus der DDR bei einem Besuch in Westberlin ins Kino und bekommen in der Wochenschau einen Bericht über den gerade stattfindenden Ungarn-Aufstand zu sehen. Sie sind erstaunt, wie sehr sich die westliche Lesart von den Darstellungen im Osten unterscheidet und hoffen, dass es den Ungarn gelingt, die Russen zu vertreiben, um autonom zu werden. Zurück in ihrem Heimatort, der den aufmunternden Namen Stalinstadt (Teil des heutigen Eisenhüttenstadt) trägt, erzählen sie den Klassenkameraden davon und nach einer Abstimmung kommt die Mehrheit überein, als Zeichen der Solidarität mit den Ungarn-Opfern (zu denen angeblich auch ein verehrter Fußballstar zählt) eine Schweigeminute abhalten. Das geschieht sofort und als ein Lehrer daraufhin wutentbrannt die Klasse verlässt, können sie noch darüber lachen. Doch bald schlägt ihre harmlose Tat immer höhere Wellen und schließlich steht der Volksbildungsminister höchstpersönlich in der Klasse, bezichtigt die Schüler eines Aktes der Konterrevolution und verlangt in Form eines Ultimatums, den Namen der Rädelsführer zu erfahren. Ansonsten werde die Klasse nicht zur Matura zugelassen.

Staatliche Schikane

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Wird sich die Klassengemeinschaft tatsächlich als solche bewähren oder tragen womöglich doch die Politschergen den Sieg davon, weil sie es schaffen, Zwietracht zu stiften und die Schüler zu entzweien? Dieses System hat einfach kein Interesse daran, mündige, selbstdenkende Bürger heranzuziehen, sondern möchte brave Parteisoldaten, die zu allem Ja und Amen sagen, was von oben befohlen wird. Um das durchzusetzen, schreckt man auch vor Verhörmethoden, Schüren von Misstrauen, Erpressung und Zwang zur Denunziation nicht zurück. (Nebenbei erhalten wir noch den Hinweis, dass Homosexuelle in den DDR-Gefängnissen besonders schikaniert wurden.) Zum Glück spielt wenigstens alles in einer Zeit, als es die Berliner Mauer noch nicht gegeben hat und die Ausreise in den Westen - offiziell ‚Republikflucht‘ genannt - noch relativ leicht möglich war.

Schweigende Eltern

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Schicht um Schicht wird durch das kluge Drehbuch enthüllt, was die Elterngeneration verschweigt. Die Väter der Hauptfiguren haben alle etwas zu verbergen; jeder von ihnen hat in den zurückliegenden Jahren wichtige Entscheidungen getroffen, die noch in die Gegenwart herüberwirken. Die Mütter sind ebenfalls ein Kapitel für sich. Auch sie bringen den Mund nicht auf, weil sie entweder als Ehefrauen viel zu verängstigt sind, und der Herr des Hauses das große Wort führt oder weil sie wichtige Informationen vor ihren Söhnen zurückhalten. Wenn sie dann aber einmal etwas sagen, hat das auch Hand und Fuß und bewirkt wichtige Entscheidungen.

Ein Experte für Autorität

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Aus der Besetzungsliste, die vor allem von großartigen Jungdarstellern getragen wird, sticht Burghart Klaußner hervor – dass er ein Spezialist für die Darstellung unangenehmer Autoritätspersonen ist, wissen wir ja spätestens seit seiner Rolle als überstrenger Pastor in Hanekes „Das weiße Band“. Nun fügt er als Bildungsminister das höchst unsympathisches Beispiel eines Parteifanatikers hinzu.

Dieser wichtige Film wird bestimmt für viele weitere schweigende Schulkassen sorgen, weil man schließlich während einer Kinovorstellung nicht mit dem Nachbarn schwätzen soll.

9 von 10 Solidaritätsakten

franco schedl