DAS LEBEN IN FREIER WILDBAHN
Von Alexandra Seibel
Rache ist süß, heißt es so schön harmlos im Volksmund, aber in der argentinischen Wutbürger-Eskalation ist Rache tödliches Elixier. In "Wild Tales" bedeutet Rache Flugzeugabsturz, Autoexplosion oder Tod durch Rattengift. Harmlose Überholmanöver auf der Landstraße steigern sich zu tödlichen Duellen, ein falscher Strafzettel kann Berge der Wut versetzen, eine heimliche Affäre verwandelt ein Hochzeitsfest in eine Eifersuchtshölle.
"Relatos Salvajes" so der spanische Originaltitel von Regisseur Damián Szifrón, wurde von Pedro und seinem Bruder Augustín Almodóvar mit produziert, bei den Filmfestspielen in Cannes frenetisch gefeiert und von Argentinien ins Rennen um den heurigen Auslandsoscar geschickt. Überschüttet mit hochkarätigen Vergleichen von Tarantino bis zu den Coens, avancierte Szifróns krasse Radikalkomödie zum Boxoffice-Hit in Argentinien.
Man kann sich nur schwer der Versuchung entziehen, den sechsteiligen Episodenfilm rund um den gesellschaftlichen Zuck-aus allegorisch zu lesen. Der Bürger als Reserve-Rambo nimmt privat Rache dort, wo bürokratische Systeme entgleisen oder Staatsmacht in den Dienst der Privilegierten tritt.
Wenn ein Finanzhai einen Familienvater ungestraft in den Freitod treibt, bekommt dessen verbitterte Tochter überraschend Gelegenheit zur Revanche. Als Kellnerin in einer Imbissstube kann sie dem arglosen Spekulanten eine feine Prise Gift über die Pommes streuen.
Auch ein geplagter Sprengmeister rastet vorerst vergeblich aus, nachdem ihm das Auto wegen angeblichen Falschparkens mehrfach abgeschleppt wurde. "Die Gesellschaft wird sich nicht ändern, du wirst dich nicht ändern", lautet das Verdikt des Vollzugsbeamten, der ihn zur Kasse bittet. Das lässt der Mann nicht auf sich sitzen. Wozu ist man schließlich Sprengmeister und bumm! fliegt auch schon ein Auto in die Luft. Dafür landet der Täter zwar im Gefängnis, avanciert aber umgehend zum Helden der sozialen Netzwerke als Michael Kohlhaas der Straßenverkehrsordnung.
Das Leben der argentinischen Gesellschaft, es bewegt sich in freier Wildbahn: Jeder für sich und Gott gegen alle. Szifrón verfasste die sechs Kurzgeschichten zu seinem hysterischen Episodenreigen selbst und lässt in tragisch-komischer Zuspitzung seine Protagonisten im grellen Countdown gegen einander antreten. Sein Extremhumor wirkt dabei als explosives Ferment einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich am Rande des Nervenzusammenbruchs befindet. Das Ergebnis ist spektakulär-unterhaltsam und zum Glück nur beinahe zynisch.