Filmkritiken

"Climax": Tanzen bis zum Horrortrip

"Climax" ist der neue Film des französischen Kultregisseurs Gaspar Noé. Vielen gilt er auch als Skandalregisseur. Vielen sind seine Filme zu intensiv. Bei der Premiere des brutalen Rachefilmes "Irreversible" (2002) verließen die Leute scharenweise das Kino. Bei "Enter the void" (2009) sprechen viele von einem Drogentrip auf Zelluloid. Bis an die Grenze des Erträglichen zeigt Noé, was Liebe, Sex, Gewalt und Drogen aus Menschen machen können. Und dabei bedient er sich immer wieder faszinierender Stilmittel, die seine höchst emotionalen, sehr bewegenden Erzählungen verstärken und seine Filme zu echten Erlebnissen machen.

 

Intensives Kinoerlebnis

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Mit "Climax" ist ihm das einmal mehr geglückt. Der Film startet mit dem Ende. Eine blutverschmierte Frau, aus der Vogelperspektive gefilmt, stapft durch den strahlend weißen Schnee. Es ist ein böses Omen, das den Zuschauer von Anfang an durch den Film begleiten wird. Was mit ihr passiert ist, erfahren wir erst nach 96 Minuten, am Ende des Films. Passend dazu läuft dann gleich der vorgezogene Abspann. Danach springen wir in die Vergangenheit.

Nach einer kurzen Vorstellung der Charaktere wie bei einer Castingshow springen wir gleich an den Ort des Geschehens: eine alte Schule irgendwo in den Bergen, mitten im tiefsten Winter. In der alten Turnhalle trainiert die Choreographin Selva (Sofia Boutella) mit den zuvor kurz vorgestellten Tänzern und Tänzerinnen, insgesamt wohl mehr als 20, eine Tanz-Performance. Mit dabei ist auch der DJ und eine Assistentin von Selva mit ihrem kleinen Sohn. Der Saal ist für eine Party geschmückt: Am Rand des Saals stehen Sofas und ein Tisch mit Getränken, an der Wand hängt eine große französische Flagge.

 

Dance-Performance

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Die Choreographie, die Noé hier zu fetten elektronischen Techno-Beats von Thomas Bangalter (Daft Punk) abfilmt, ist gleich einmal der erste Höhepunkt des Films. So perfekt inszeniert, so intensiv, so in den Bann ziehend, dass selbst die Körper der ärgsten Tanzmuffel im Kinosessel zu wippen beginnen. Die gesamte Besetzung besteht (offensichtlich) aus professionellen Tänzern, die sich aber auch als Schauspieler nicht schlecht schlagen. Dieses Flair von Laien-Darstellern und die Improvisation, die Gaspar Noé in seinen Film gezielt einbaut, verleiht "Climax" eine unglaubliche Authentizität und Intensität.

Nach dem Tanz-Training ist Party angesagt. Der Turnsaal wird zum Tanzparkett. Sangria für alle! Es wird getanzt, getrunken, getratscht, geflirtet. Der Sangria zeigt seine Wirkung. Männer erzählen einander ihre sexuellen Fantasien. Männer baggern Frauen an, Frauen baggern Frauen an. Die Stimmung ist sexuell aufgeladen. Die meisten wollen einfach nur Spaß haben. Manche wollen mehr.

Und dann kippt die Stimmung. Nicht plötzlich, vielmehr schleichend. Doch als klar wird, dass irgendwer LSD in die Sangria-Bowle gegeben hat, ist ein Wendepunkt erreicht.

 

Horrortrip

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Was dann passiert, ist eine visuell und erzählerisch überwältigend inszenierte schleichende Eskalation. Noé wird seinem Ruf mehr als gerecht. Grandios inszeniert er die sich langsam steigernden Eskalationsstufen vom angenehmen Rausch in den unkontrollierten Horrortrip. Das am Beginn stehende Omen und die erwähnte Authentizität des Films und seiner Schauspieler steigern die Intensität von "Climax" in schwindelerregende Höhe.

Climax ist eine Dance-Performance, eine Party, ein Rausch, eine Orgie, ein Drogentrip und letztendlich beinahe ein Horrorfilm. Jedenfalls ist "Climax" von Gaspar Noé einer der besten, wenn nicht der beste Film des Jahres.

 

Erwin Schotzger