Sheherezade im modernen Portugal
Von Susanne Lintl
Was macht die Wirtschaftskrise und die damit einhergehenden Verwerfungen mit einer Gesellschaft? Sie hinterlässt viele Spuren, die vielleicht nicht auf den ersten Blick sichtbar sind, aber die Stimmung in einem Land nachhaltig prägen. Bitterkeit, Verarmung, Resignation, Prekariat machen sich breit, Hoffnung wird zur weichen Währung. Die Masse darbt, während wenige es sich richten.
Nichts Geringeres als diese unerfreuliche Metamorphose seines Landes einzufangen, dem von der berühmten Troika 2013 und 2014 ein strenges Austeritätsprogramm auferlegt wurde, hat sich der portugiesische Filmemacher Miguel Gomes vorgenommen. In seinem gewaltigen Triptychon 1001 Nacht Der Ruhelose/Der Verzweifelte/Der Entzückte erzählt er die Geschichten der Verlierer Portugals in einer Mischung aus Realität, Fiktion, Dokumentarischem und Märchen. Scheherezade, die kluge Wesirtochter aus 1001 Nacht, verbrämt die Geschichten mit Fabeln und wunderlichen Gestalten. Ihre Helden sind die einfachen Menschen. Die Troika-Repräsentanten selbstgefällige Idioten, die auf Kamelen reiten und sich an einer Dauererektion erfreuen.
Großartig ist die Sequenz im 2. Teil, in der eine Richterin in einem Amphitheater mit so vielen Fällen, die aus der Verzweiflung der Menschen resultieren, konfrontiert ist, dass sie sich zu richten außerstande sieht. Ganz Portugal steht quasi vor ihrem Tribunal, und wie kann über das System eines Landes geurteilt werden? Oder die Geschichte vom Mörder Simao, der sich 40 Tage lang in der Wildnis versteckt, von Huren und Rebhühnern träumt und schließlich von der Polizei gefunden von der Bevölkerung seines Dorfes wie ein Held gegen alle Autoritäten gefeiert wird. Oder die Geschichte vom Hahn, der sterben soll, weil er kräht und schließlich bei der Wahl in der Gemeinde so viele Stimmen erhält, dass er der Chef im Dorf ist. Jede Geschichte hat Tiefe und Weisheit - und man will die nächste hören.
Gomes sechseinhalbstündiges Werk ist fordernd, traurig, erotisch, böse, packend. Es ist die Zeit, die es fürs Betrachten braucht, wert. Bei großen Opern schaut man ja auch nicht auf die Uhr.